Identität (German Edition)
sie hoffnungsvoll an.
«Es ist nur so, dass – ach, Liebling, ich glaube nicht, dass ich noch allzu lange George Orson sein kann. Und wenn wir zusammenbleiben wollen, kannst du auch nicht mehr allzu lange Lucy Lattimore sein.»
Jenseits des unkrautüberwucherten Tals lagen die Wolken über dem Ufer geschichtet, von Schmutzigweiß nach oben hin zu Dunkelgrau abschattend. Ein Schleier von Staub schwebte über dem Talboden, der einst tief unter Wasser gelegen hatte.
13
MILES SASS in einer Bar in Inuvik, als sein Telefon klingelte. Es war sein viertes Bier, und anfangs wusste er nicht so recht, wo das Geräusch herkam – ein digitalisiertes Vogelgezwitscher, das einem unspezifischen Ort in seiner näheren Umgebung zu entspringen schien. Er warf einen Blick hinüber zum Barkeeper, dann über die Schulter und dann auf den Fußboden unter seinem Barhocker, bis er schließlich erkannte, dass das Gezwitscher tatsächlich vom Handy in seiner Jackentasche kam.
Es war das Handy, das er bei Ice Wireless, dem örtlichen Telefonladen, gekauft hatte, weil er mit seinem eigenen Gerät kein Netz bekam. Eines der vielen Dinge, die er in Cleveland vor seiner Abreise nicht bedacht hatte. Eine der vielen Ausgaben, mit denen seine Kreditkarte im Laufe seiner jahrelangen Suche nach Hayden belastet worden war.
Jetzt aber: Diesmal hatte sich die Investition offenbar gelohnt. Das Telefon klingelte tatsächlich.
«Hallo?», sagte er, und die Leitung schien tot zu sein. «Hallo? Hallo?» Er war an dieses Handy noch nicht gewöhnt, wusste nicht, ob er es richtig bediente.
Dann ertönte eine Frauenstimme. «Bin ich bei Ihnen richtig wegen dem Steckbrief?», fragte sie, und im ersten Moment war er so verblüfft, eine Stimme am anderen Ende der Verbindung zu hören, dass die Synapsen in seinem Gehirn übereinander zu stolpern schienen.
«Dem Steckbrief …?», wiederholte er.
«Ja», sagte die Frau. «Da hing so ein Anschlag, wegen eines Vermissten, und das hier war die Nummer, die man anrufen sollte. Ich glaube, ich habe Informationen über den Gesuchten.» Sie hatte einen amerikanischen Akzent – schon eine Weile her, dass er das gehört hatte –, und er richtete sich auf und tastete seine Taschen nach einem Stift ab.
«Ich glaube, ich kenne den Mann, nach dem Sie suchen», sagte sie.
Als Detektiv war er eine Katastrophe.
Das war eines der Dinge, über die er während der Fahrt nach Inuvik nachgedacht hatte. Die letzten zehn Jahre seines Lebens waren praktisch ausschließlich der Suche nach Hayden gewidmet gewesen – es hatte etliche Jobs und unüberzeugte Bemühungen um etwas wie eine höhere Ausbildung gegeben, aber während der ganzen Zeit hatte er gedacht, dass seine eigentliche Berufung woanders lag. Sein eigentlicher Beruf war «Detektiv», seine eigentliche Bestimmung, hatte er gedacht, war, nach Hayden zu suchen, und jeder Anlauf in Richtung eines normalen Lebens war immer wieder von Perioden akuter Hayden-Besessenheit unterbrochen und schließlich vereitelt worden: Perioden, in denen er Daten gesammelt und gesichtet, sein Geld ausgegeben und sein Kreditkartenkonto belastet hatte, um die langen, fruchtlosen Fahrten zu finanzieren.
Wobei er in all den Jahren eigentlich wenig mehr erreicht hatte, als unzählige Notizbücher voll unbeantworteter Fragen anzuhäufen:
Ist Hayden schizophren? Leidet er wirklich an einer psychischen Störung, oder ist das alles nur Theater?
Nicht bekannt.
Glaubt Hayden wirklich an seine «früheren Existenzen», und falls ja, wie hängt das mit seiner Beschäftigung mit «Leylinien», «Geodäsie» und «Geisterstädten» zusammen? Oder ist auch das nur bloßer Schwindel?
Nicht bekannt.
War Hayden für den Hausbrand verantwortlich, bei dem unsere Mutter und Mr. Spady ums Leben kamen?
Nicht bekannt.
Warum war Hayden in Los Angeles, und worin bestand seine Tätigkeit als «Residualeinkommensberater»?
Nicht bekannt.
Was hatte es mit seinem Mathematikstudium an der University of Missouri, Rolla, auf sich? Wie hat er es geschafft, auf die Uni zu kommen, ohne einen College-Abschluss zu haben?
Nicht bekannt.
Was wurde aus der jungen Frau, mit der er in Missouri zusammen war?
Nicht bekannt.
In welcher – wenn überhaupt einer – Beziehung steht Hayden zu H&R Block, Morgan Stanley, Lehman Brothers, Merrill Lynch, Citigroup usw.?
Nicht bekannt.
Warum hat Hayden mich vor Mrs. Matalov/Matalov Novelties gewarnt?
Nicht
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