Identität (German Edition)
dachte Miles und malte sich ein Szenario aus, in dem er und seine Freunde sich regelmäßig auf einen Drink trafen und ihr Leben die festgelegten Rhythmen und amüsanten Komplikationen einer gut geschriebenen TV-Ensembleserie aufwies. Er wäre der Witzige, leicht Neurotische, der vielleicht was mit einem intelligenten, überspannten jüngeren Mädchen – vielleicht mit Tattoos und Piercings – anfangen könnte, das sein Leben auf interessante und komische Weise aufmischen würde.
«Es ist toll, dich zu sehen, Miles», sagte John Russell, während Miles sich mühsam aus seinem Tagtraum herauskämpfte. «Ehrlich. Ich kann’s gar nicht glauben, dass es schon zehn Jahre her ist! Herr im Himmel! Über zehn Jahre!» Und John Russell presste sich die Hände an die Wangen und mimte den Überraschten. Miles hatte ganz vergessen, was für seltsame, blödsinnige Gesten John Russell zu machen pflegte, als habe er von den Mangas und Videospielen, die er früher immer so liebte, gelernt, wie man Emotionen zum Ausdruck bringt.
«Also, was hast du so alles getrieben?», fragte John Russell und hob die Augen, als sei er darauf gefasst, dass Miles gleich eine denkwürdige Geschichte vom Stapel lassen würde. «Homunculus!», wie er früher, in ihrer Teenagerzeit, zu sagen pflegte, womit er meinte: «Unglaublich!»
«Miles», sagte er. «Wo bist du bloß all die Jahre gewesen?»
«Gute Frage», sagte Miles. «Das wüsste ich manchmal selbst gern.»
Er war unschlüssig. Er wollte sich nicht über die ganze Sache mit Hayden auslassen – die vermutlich ohnehin als lächerlich und übertrieben rübergekommen wäre. Was hätte er schon sagen können? Im Prinzip hab ich die letzten zehn Jahre damit vergeudet, meinem geistesgestörten Zwillingsbruder hinterherzulaufen. Du erinnerst dich doch an Hayden, oder?
Wahrscheinlich brachte es schon Unglück, Haydens Namen auch nur auszusprechen.
«Ich weiß nicht», sagte er zu John Russell. «Ich bin eigentlich etwas – nomadisch gewesen. Hab alle möglichen Sachen gemacht. Ich hab an die sechs Jahre gebraucht, um mit dem College fertig zu werden, weißt du. Es gab … ein paar Probleme …»
«Ich hab davon gehört», sagte John Russell und produzierte einen, wie Miles vermutete, mitfühlenden Gesichtsausdruck. «Mein Beileid wegen deiner Eltern.»
«Tja», sagte Miles. «Danke.» Aber was konnte man schon weiter sagen? Wie reagiert man auf Beileidsbekundungen, die sich auf ein so lange zurückliegendes Ereignis beziehen? «Jetzt geht’s mir besser.» Das, entschied er, war eine gute Antwort. «Es war schwierig, aber – ich hab mich wieder berappelt. Es hat eine Weile gedauert, und – tja, und ich spiele einfach mit dem Gedanken, für eine Weile sesshaft zu werden. Du weißt schon, mir einen Job zu suchen und so, irgendetwas.»
«Unbedingt», sagte John Russell und nickte, als ob Miles sich völlig klar ausgedrückt hätte. Was für eine Erleichterung! Solange sie sich kannten, war John Russell immer ein gutgelaunter Typ gewesen, der zu allem vergnügt Ja und Amen gesagt hatte – der perfekte Freund, wenn man einen verrückten Bruder, ein schwieriges Familienleben und eine eher begrenzte soziale Kompetenz hatte. Charakterlich hatte er sich kaum verändert, auch wenn er in anderer Hinsicht deutlich gealtert war: Sein Haaransatz war zurückgegangen, und die kahle Stelle auf seinem Kopf sah jetzt länglicher aus. Außerdem hatte er ein schwächeres Kinn bekommen und war um Bauch und Hüften und Hintern schwerer geworden, sodass seine Figur insgesamt ein bisschen kegelförmig wirkte. Er war Anwalt für Steuerrecht.
«Ich such vorläufig noch nichts Bestimmtes», sagte Miles. Er fühlte sich noch immer leicht befangen und, er konnte nichts dagegen tun, in der Defensive. «Irgendeinen Job … und, ich weiß nicht, vielleicht wieder aufs College gehen? Ich glaube, ich sollte mein Leben mal auf die Reihe kriegen. Ich hab eine Menge Zeit vergeudet.»
Aber John Russell legte nur den Kopf mitfühlend schief. «Wer weiß?», sagte er. «Tatsächlich wünsche ich mir manchmal, ich wäre etwas mehr gereist und vielleicht ein bisschen weniger sesshaft gewesen.» Und er klopfte sich mit ironischer Miene auf den runden Bauch.
«Ich glaube, die meisten Menschen vergeuden ihr Leben auf die eine oder andere Weise», sagte John Russell. «Weißt du, ich hab mal versucht auszurechnen, wie viel Zeit ich mit Videospielen und Fernsehgucken verbracht habe. Meiner groben Schätzung nach so an die
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