Identität (German Edition)
später, schwebte ein zarter Duft nach Altedamenpuder in der Luft. Im Kleiderschrank noch ein paar Bügel und die leere Kommode, die finster vor der Wand thronte, und dann die Treppe, die in den zweiten Stock führte – in den Turm, einen kleinen achteckigen Raum mit einem einzigen Fenster, das, vom See abgewandt, auf den Kegelstumpf des Pseudoleuchtturms und den von Motelzimmern eingefassten Hof sah. Und den Highway. Und die Alfalfafelder. Und den fernen, entrückten Horizont.
Und so – sie konnte nichts tun, konnte nicht einschlafen, lag nur da und starrte nach oben in die verschwimmende Dunkelheit, die ihr Gehirn nicht recht verarbeiten konnte. Die Tür war zu, das Rollo heruntergezogen, so gab es nicht einmal Mondlicht oder Sterne.
Vage Gestalten zogen über die Oberfläche der Dunkelheit dahin wie Protozoen auf dem Objektträger eines Mikroskops, aber es war nicht allzu viel da, woran sich ihre Optik tatsächlich hätte festmachen können.
Sie schob die Hand unter die Bettdecke, bis sie an die Uferlinie von George Orsons Körper stieß. Seine Schulter, seine Brust, die sich unter seiner Haut hebenden und senkenden Rippen, sein warmer Bauch, gegen den sie drückte – bis er sich endlich herumdrehte und einen Arm über sie legte. Sie tastete sich daran entlang und fand schließlich sein Handgelenk, seine Hand, seinen kleinen Finger. Den sie umklammerte.
Okay .
Alles könnte gut werden , dachte sie.
Zumindest war sie nicht mehr in Pompey.
6
MILESʼ ZWILLINGSBRUDER Hayden war seit über zehn Jahren verschollen – obwohl «verschollen» wahrscheinlich nicht ganz das richtige Wort war.
«Auf freiem Fuß»? Traf es das besser?
Als der jüngste Brief von Hayden eintraf, war Miles so gut wie entschlossen gewesen, die Sache aufzugeben. Er war – sie beide waren – einunddreißig Jahre alt, und Miles fand, es war an der Zeit, endlich loszulassen. Nach vorn zu schauen. So viel Energie und Anstrengung, dachte er, vergeudet, für die Katz. Eine Zeitlang spürte Miles eine neue Entschlossenheit in sich: Ab jetzt würde er sein eigenes Leben leben.
Er war wieder in Cleveland, wo er und Hayden aufgewachsen waren. Er hatte eine Wohnung am Euclid Heights Boulevard, nicht weit von ihrem früheren Haus entfernt, und einen Job als Geschäftsführer eines Ladens namens Matalov Novelties. Es war ein altes Versandhaus mit Ladenlokal auf der Prospect Avenue, das in erster Linie Magierbedarf anbot – Cellulosenitratpapier und Rauchpulver, Schals und Seile, Trickkarten, -münzen und -zylinder und so weiter –, daneben aber auch Scherzartikel, nutzlose Apparate, pikante Spielzeuge, ein paar Sexartikel. Der Katalog war etwas wirr, aber ihm gefiel das. Er konnte da Ordnung hineinbringen, sagte er sich.
War es das, was er aus seinem Leben zu machen gehofft hatte? Wahrscheinlich nicht so ganz, aber er hatte einen Kopf für Zahlen, Quittungen und Bestellungen und brachte der Ware in den Regalen, der karnevalesken Aura des trashig Okkulten und der bunten magischen Plastikrequisiten, eine gewisse Zuneigung entgegen. Es gab Zeiten, wenn er im halbdunklen fensterlosen Hinterzimmer am Computer saß, wo er sich tatsächlich sagte, dass es alles in allem vielleicht gar kein so schlechter Beruf war. Er mochte die alte Geschäftsinhaberin, Mrs. Matalov, die in den dreißiger Jahren die Assistentin eines Zauberkünstlers gewesen war und selbst jetzt noch, mit dreiundneunzig, die stoische Würde einer schönen Frau besaß, die kurz davor steht, entzweigesägt zu werden. Auch zu Mrs. Matalovs Enkelin, Aviva, hatte er ein gutes Verhältnis, einer zum Sarkasmus neigenden jungen Frau mit schwarzgefärbtem Haar und schwarzen Fingernägeln und einem schmalen, trauervollen Gesicht, mit der sich Miles neuerdings vorstellen konnte, bei Gelegenheit einmal was zu unternehmen.
In letzter Zeit spielte er mit dem Gedanken, wieder aufs College zu gehen, vielleicht einen Abschluss in Buchführung zu machen. Außerdem sich vielleicht um eine kurze kognitive Verhaltenstherapie zu bemühen.
Als also Haydens Brief kam, war Miles überrascht, wie schnell er wieder in seine alten Verhaltensmuster zurückgefallen war. Er hätte den Brief nicht einmal öffnen dürfen, sagte er sich später. Und tatsächlich, als er an dem Tag im Juni das Apartmenthaus erreichte, in dem er wohnte, seinen Briefkasten aufschloss und den Brief zwischen den Rechnungen und der Werbung sah – da beschloss er, dass er ihn ungeöffnet lassen würde. Leg ihn
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