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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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am Arktischen Ozean.
    Dennoch konnte Miles nicht umhin, an Haydens Zeichnung von diesem Großen Turm zu denken, an die schlichte, aber plastische Bleistiftskizze, die an den Porzellanturm von Nanking erinnerte, und als die Mackenzie-Fähre am Horizont erschien und näher kam, verspürte er einen leichten Schwindel, ein erwartungsvolles Zittern. Miles hatte einen Gutteil seines Lebens damit zugebracht, über Haydens verschiedenen Tagebüchern und Notizheften zu brüten, und sogar noch längere Zeit, mit Haydens verschiedenen Wahnvorstellungen zu leben. Trotz allem verblieb ihm ein winziges Körnchen Glaubensbereitschaft, das ein bisschen heller aufglühte, als er sich dem Schauplatz von Haydens Phantasien näherte. Er konnte sich die Stelle am Ortsrand fast vorstellen, an der sich der Große Turm einst aus der welligen Tundra erhoben hatte, scharf gezeichnet vor dem immensen, endlos strahlenden Himmel.
     
    Das war schon immer eines der Probleme gewesen: Vielleicht ließ es sich auf die Art erklären. Jahre- und jahre- und jahrelang hatte Miles bereitwillig an den Hirngespinsten seines Zwillingsbruders teilgenommen. Folie à deux nannte man das wohl.
    Seit ihrer Kindheit hatte Hayden fest an die Mysterien des Unbekannten geglaubt – parapsychische Phänomene, frühere Existenzen, UFOs, Leylinien und Geisterpfade, Astrologie und Numerologie usw., usw. Und Miles war sein getreuester Jünger und Anhänger gewesen. Sein Zuhörer. Persönlich hatte er nie an das Zeug geglaubt – nicht so, wie Hayden daran zu glauben schien –, aber es hatte eine Zeit gegeben, da er glücklich gewesen war mitzuspielen, und vielleicht war diese Nebenwelt für eine Weile eine Schnittmenge ihrer beider Gehirne gewesen. Ein Traum, den sie beide gemeinsam geträumt hatten.
    Als er Jahre später in den Besitz von Haydens Papieren und Tagebüchern gelangte, wusste Miles, dass er wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt war, der imstande war, das, was Hayden aufgeschrieben hatte, zu verstehen und zu übersetzen. Nur er konnte aus diesen Stapeln von Notizbüchern schlau werden – der winzigen Blockschrift; den von links nach rechts und von oben bis unten randlos mit Text und Berechnungen vollgeschriebenen Seiten; den braunen A4-Umschlägen voller Zeichnungen und retuschierter Fotos; den Landkarten, die Hayden aus Enzyklopädien herausgerissen und mit seinen geodätischen Projektionen bedeckt hatte; den Linien, die kreuz und quer durch Nordamerika verliefen und sich an Orten wie Winnemucca, Nevada, Kulm, North Dakota und Inuvik in den Nordwestterritorien schnitten; den zunehmend mäandrierenden und labyrinthischen Theorien – einem Kuddelmuddel von Kryptoarchäologie und Numerologie, Holomorphie und Branenkosmologie, Reinkarnationslehre und verschwörungstheoretischer Paranoia.
    Mein Werk , hatte Hayden irgendwann angefangen, es zu nennen.
     
    Miles versuchte oft, sich zu erinnern, wann Hayden diesen Ausdruck – «mein Werk» – zum ersten Mal verwendet hatte. Anfangs war es für sie beide nur ein Spiel gewesen, und Miles erinnerte sich sogar an den Tag, an dem es angefangen hatte. Es war in dem Sommer gewesen, als sie zwölf geworden waren, und beide studierten seit einiger Zeit Bücher von Tolkien und Lovecraft. Miles hatte vor allem die Landkarten geliebt, die sich in den Herr-der-Ringe- Romanenfanden, während Hayden sich mehr zu den Mythen und mysteriösen Orten Lovecrafts hingezogen fühlte – der fremdartigen Stadt unter den Bergen der Antarktis, den prähistorischen zyklopischen Städten, den verfluchten Städten Neuenglands.
    Sie hatten auf dem Regal im Wohnzimmer, neben der World Book Encyclopedia , einen dieser goldgeprägten, fest gebundenen, großformatigen Atlanten gefunden und hatten sich gleich in ihn verliebt, in diesen wuchtigen, schweren Band, der wie ein alter Foliant in den Händen lag. Es war Miles’ Idee gewesen, dass sie ein paar Karten Nordamerikas nehmen und sie in Phantasiewelten verwandeln könnten. Zwergenstädte in den Bergen. Sonnenversengte Kobold-Ruinen in den Ebenen. Sie könnten Monumente und Dynastien und Schlachten erfinden und so tun, als ob Amerika in alter Zeit, noch vor den Indianern, ein Reich von prächtigen Großstädten und alten Zauberrassen gewesen sei. Miles fand, es könnte Spaß machen, sich ein eigenes Dungeons and Dragons auszudenken, in dem reale und ausgedachte Orte gleichzeitig, nebeneinander vorkamen; er hatte sehr genaue Vorstellungen, wie sich das Ganze entwickeln würde, aber

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