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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Vertraue den Matalovs nicht , hatte Hayden gesagt, was verrückt war, aber Miles merkte, dass er zögerte. «Es ist schwer zu erklären», sagte er dann.
    Und das war es tatsächlich. Selbst wenn er vollkommen aufrichtig gewesen wäre, was hätte er schon sagen können? Wie konnte er jemandem begreiflich machen, wie diese alten Sehnsüchte, diese süß-peinigende Mischung aus Liebe und Pflichtbewusstsein, mit einer solchen Selbstverständlichkeit hatten zurückkehren können? Ein Therapeut würde vielleicht einfach von einer Zwangsstörung sprechen – nach dieser langen Zeit, nach all den Jahren, die er schon vergeudet hatte –, aber nichtsdestoweniger überfiel ihn mit einem Mal das gleiche Gefühl von Dringlichkeit, das er verspürt hatte, als Hayden vor so vielen Jahren zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen war. Die gleiche Gewissheit, dass er ihn finden, ihn fangen, ihm helfen konnte, oder zumindest dafür sorgen, dass er an einen sicheren Ort weggesperrt wurde. Wie konnte er erklären, wie unbändig er das wollte? Wer hätte schon verstanden, dass, als Hayden mitten in der Nacht verschwand, es so gewesen war, als sei ein Stück von ihm selbst abhandengekommen – seine rechte Hand, seine Augen, sein Herz –, wie der Pfefferkuchenjunge aus dem Märchen, der die Straße davonrannte: Komm zurück! Komm zurück! Wenn er das jemandem erzählte, würde er ebenso verrückt wie Hayden erscheinen.
    Er hatte geglaubt, über solche Gefühle hinweg zu sein, aber nun – da war er. Packte. Holte die Milch aus dem Kühlschrank und goss sie in den Ausguss. Sichtete seine alten Notizen, druckte E-Mails aus, die ihm Hayden vor Ewigkeiten geschickt hatte. Sie enthielten verschiedene Hinweise und Anspielungen auf seinen jeweiligen Aufenthaltsort, eingebettet in phantastische Beschreibungen von erfundenen Landschaften, wütende Tiraden über Überbevölkerung und die internationale Verschwörung der Großbanken, nächtliche zerknirschte Selbstmordgedanken. Und dann setzte sich Miles an seinen Schreibtisch und untersuchte mit dem Vergrößerungsglas den Umschlag des Briefes, den Hayden ihm gerade geschickt hatte, den Poststempel. Überprüfte noch einmal die Wegbeschreibung. Er wusste, wo Hayden hinwollte.
     
    Und jetzt war er fast da.
    Miles saß am Straßenrand in seinem Auto und überflog noch einmal eines von Haydens Tagebüchern, während er auf die Fähre wartete, die ihn über den Mackenzie River befördern würde. Ein Zaun zog sich das schiefergraue schlammige Ufer herauf und hinein in die grünen runzligen Ausbuchtungen von Tundra, aber abgesehen davon waren kaum Anzeichen von menschlicher Zivilisation zu sehen. Ein rautenförmiges Straßenschild. Der Fluss war eine stille, spiegelnde Fläche, silbern und saphirblau. Erst einmal drüben, waren es bis Inuvik nur noch knapp hundertfünfzig Kilometer.
    Inuvik war einer der Orte, auf die Hayden sich fixiert hatte. «Geist-Städte» nannte er sie, und er hatte über sie – und darunter über Inuvik – ausführlich in den Tagebüchern und Notizheften geschrieben, die sich jetzt in Miles’ Besitz befanden. Schon seit Jahren war Hayden von der Idee besessen, Inuvik sei die Stätte einer gewaltigen archäologischen Ruine und an seinem Ortsrand befänden sich die Überreste des Großen Turms von Kallupilluk, eines ehemals rund vierzig Stockwerke hohen Bauwerks aus Eis und Stein, das um 290   v.   Chr. auf Geheiß des mächtigen Inuit-Kaisers Kallupilluk – einer Gestalt, die Hayden in einer vergangenen Existenz gekannt zu haben glaubte – errichtet worden sei.
    Wovon, natürlich, kein Wort wahr war. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Dinge, von denen Hayden besessen war, hatte einen nennenswerten Bezug zur Realität, und seit ein paar Jahren geriet er immer tiefer in eine weitgehend imaginäre Welt. In Wirklichkeit hatte es nie einen Turm oder einen großen Inuit-Kaiser namens Kallupilluk gegeben. Im wirklichen Leben war Inuvik eine kleine Siedlung in den Nordwestterritorien von Kanada mit rund dreieinhalbtausend Einwohnern. Es lag am Mackenzie-Delta – «eingebettet», wie die Website der Gemeinde mitteilte, «zwischen der baumlosen Tundra und dem borealen Waldgürtel» –, und es existierte noch nicht mal seit einem Jahrhundert. Haus für Haus war es von der kanadischen Regierung als Verwaltungszentrum in der westlichen Arktis erbaut worden und hatte erst 1967 den Status einer Dorfgemeinde verliehen bekommen. Es lag nicht einmal, wie Hayden zu glauben schien,

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