Identität (German Edition)
beiseite , dachte er. Lass ihn eine Weile liegen, bevor du ihn liest .
Doch nein, nein. Noch ehe er die drei Treppen zu seiner Wohnung hinaufgestiegen war, hatte er den Umschlag aufgerissen und den Brief auseinandergefaltet.
Mein lieber Miles , fing er an.
Miles! Mein Bruder, mein liebster, mein einziger wahrer Freund, es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich hoffe, Du hasst mich dafür nicht, und kann nur beten, dass Du den Ernst der Lage begreifst, in der ich mich seit unserem letzten Gespräch befinde. Ich bin untergetaucht, sehr tief untergetaucht, aber jeden Tag musste ich daran denken, wie sehr Du mir fehlst. Es war einzig meine Angst um Deine Sicherheit, die mich davon abhielt, mit Dir Kontakt aufzunehmen. Ich bin nämlich ziemlich sicher, dass Deine Telefongespräche abgehört und Deine E-Mails gelesen werden, und tatsächlich gehe ich selbst mit diesem Brief ein großes Risiko ein. Du solltest Dir dessen bewusst sein, dass Dich möglicherweise jemand überwacht, und so ungern ich es sage, glaube ich, dass Du in realer Gefahr sein könntest. Oh, Miles, ich wollte Dich in Ruhe lassen. Ich weiß, dass Du das alles satthast und Du Dein eigenes Leben führen willst, und Du verdienst es auch. Es tut mir entsetzlich leid. Ich wollte Dir das Geschenk machen, mich endlich los zu sein, aber unglücklicherweise wissen sie von unserer Verbindung. Gerade erst habe ich, einzig aufgrund meiner Unachtsamkeit, einen sehr teuren Menschen verloren, und jetzt richten sich meine Gedanken mit größter Besorgnis auf Dich. Bitte sei vorsichtig, Miles! Misstraue der Polizei und jedem Mitarbeiter einer staatlichen Behörde, FBI, CIA oder selbst der Stadtverwaltung. Vermeide jeden Kontakt mit H&R Block und mit jedem, der für J.P. Morgan, Morgan Stanley, Goldman Sachs, Lehman Brothers, Merrill Lynch, Chase oder Citigroup arbeitet. Hüte Dich vor jedem, der irgendetwas mit der Yale University zu tun hat. Ich weiß außerdem, dass Du seit einiger Zeit mit der Familie Matalov in Cleveland verkehrst, und ich kann Dir nur sagen: VERTRAUE IHNEN NICHT! Erzähle niemandem von diesem Brief! Es ist mir äußerst unangenehm, Dich in eine solche Lage zu bringen, aber ich beschwöre Dich, Cleveland so schnell und so unauffällig wie möglich zu verlassen. Miles, es tut mir so leid, Dich in all das hineingezogen zu haben, ganz ehrlich. Ich wünschte, ich könnte noch einmal von vorn anfangen und es anders machen, Dir ein besserer Bruder sein. Aber diese Chance ist jetzt vertan, das weiß ich, und ich fürchte, ich werde nicht mehr lange auf dieser Welt sein. Erinnerst Du Dich an den Großen Turm von Kallupilluk? Das könnte meine letzte Ruhestätte werden, Miles. Gut möglich, dass Du nie wieder von mir hörst.
Ich verbleibe, wie immer, Dein einziger wahrer Bruder und liebe Dich sehr.
Hayden
So.
Was macht man mit einem solchen Brief? Miles blieb eine Weile da am Küchentisch sitzen, den ausgebreiteten Brief vor sich, und schüttete ein Tütchen Süßstoff in eine Tasse Tee. Was würde ein normaler Mensch tun?, fragte er sich. Er stellte sich den normalen Menschen vor, wie er den Brief las und traurig den Kopf schüttelte. Was kann man da tun?, würde sich der normale Mensch fragen.
Er schaute auf den Poststempel auf dem Umschlag: Inuvik, NT, Kanada XOE OTO .
«Ich muss mir leider eine gewisse Zeit freinehmen», erklärte Miles Mrs. Matalov am nächsten Morgen, und dann saß er da mit dem Telefonhörer am Ohr und lauschte ihrem Schweigen.
«Eine gewisse Zeit?», sagte Mrs. Matalov mit ihrem altmodischen Vampir-Akzent. «Ich verstehe nicht. Was bedeutet das, ‹gewisse Zeit›?»
«Ich weiß nicht», sagte er. «Zwei Wochen?» Er warf einen Blick auf die Fahrtroute, die er am Computer ausgearbeitet hatte, die Karte Kanadas, durch die sich eine grün unterlegte Linie in Zacken durch das Land schlängelte. Knapp sechseinhalbtausend Kilometer, für die er schätzungsweise an die vierundachtzig Stunden brauchen würde. Wenn er täglich fünfzehn bis sechzehn Stunden fuhr, konnte er am Wochenende in Inuvik sein. Konnte anstrengend werden, dachte er, aber machten Lastwagenfahrer schließlich nicht jeden Tag solche Marathonfahrten? «Na ja», sagte er. «Vielleicht drei Wochen.»
«Drei Wochen!», sagte Mrs. Matalov.
«Es tut mir echt wahnsinnig leid», sagte Miles. «Es ist nur so, dass – ich habe etwas Dringendes zu erledigen.» Er räusperte sich. «Eine Privatangelegenheit», sagte er.
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