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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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billigen Haarschnitt und einem Überbiss, die vielleicht schon selbst mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt hatte. Sie hatte an diesen Jungen gedacht, der sich im See ertränkt hatte, und hatte sich gefragt, was das wohl für ein Gefühl war – sie selbst hatte immer angenommen, die beste Methode sei Kohlenmonoxid, Kohlenmonoxid und Schlaftabletten, ein schmerzloser Abschied …
    Und er war weitergegangen, und sie hatte ihr Glas Wodka mit Cranberrysaft an die Lippen geführt, und er hatte an Jays Meditations-CDs gedacht.
    «Die nächste Energie-Ebene liegt in der Nähe deiner Stirn», sagte die Sprecherin mit ihrer beruhigenden, verträumt monotonen Stimme. «Hier liegt das Chakra der Zeit, der Kreislauf von Tageslicht und Nacht in ihrem ewigen Wechsel, der dich zum Gewahrsein deiner Seele führen wird. Lass deinen Geist frei. Indem du die Kraft und die Herrlichkeit deiner eigenen Seele annimmst, wirst du auch die Seele in jedem und allem gewahren.»
    Er dachte daran, als er sich in die Schlange vor dem Check-in-Schalter einreihte, und legte sich die Finger leicht an die Stirn.
    «Das ist der Sitz der Zirbeldrüse», hatte ihm Jay erklärt. «Da kommt dein Melatonin her, das den Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Cool, was?»
    «Ja», hatte Ryan gesagt. «Interessant!»
    Jetzt fragte er sich allerdings, was Ms.   Gill zu dem Ganzen zu sagen gehabt hätte. Wie er sich erinnerte, war sie eine Skeptikerin gewesen, die nicht den geringsten Sinn für derlei New-Age-Quatsch hatte, und er warf einen Blick über die Schulter.
     
    Trotz seiner Sprüche über Meditation und Entspannung und so weiter war auch Jay in letzter Zeit nervös.
    «Gottverdammt, Ryan», sagte er. «Dein Gezappel färbt allmählich auch auf mich ab. Ich krieg so langsam die fantods , Mann.»
    Ryan saß an einem der Laptops und eröffnete gerade ein Bankkonto für einen seiner Neuzugänge – Max Wimberley, dreiundzwanzig, aus Corvallis, Oregon. Während er weitertippte und die erforderlichen Daten in das Antragsformular eingab, hob er die Augen.
    «Was ist ein fantod ?», fragte er.
    «Keine Ahnung», sagte Jay. Er saß ebenfalls an einem Computer und hackte mit dem Zeigefinger gereizt auf die Escape-Taste ein, während er kopfschüttelnd auf den Bildschirm starrte. «Das ist einfach so ein altmodisches Wort aus Iowa, das mein Dad immer benutzt hat. Das ist so, wie wenn eine Gans über dein Grab spaziert. Kennst du diese Redensart?»
    «Nicht direkt», sagte Ryan, und Jay stieß unvermittelt einen besonders lästerlichen Strom von Flüchen aus.
    «Das glaub ich jetzt nicht», sagte Jay und knallte mit der flachen Hand auf die Tastatur, so fest, dass zwei Buchstabentasten heraussprangen und mit einem leisen Klacken, wie zwei Würfel, auf den Fußboden fielen. «Gottverdammt!», sagte Jay. «Ich hab mir einen Virus gefangen! Ist schon das dritte Mal in dieser Woche!»
    Jay strich sich das Haar aus dem Gesicht und hinter die Ohren und fuhr sich nervös mit den Fingern über die Schläfen.
    «Hier geht irgendwas ab», sagte er. «Ich hab ein mieses Gefühl, Ryan. Das gefällt mir nicht.»
     
    Ryan wusste nicht, was er davon halten sollte. Mit Jay konnte gelegentlich das Temperament durchgehen. Er spielte zwar gern den relaxeden, immer lockeren Typ, hatte aber durchaus seine abergläubischen fixen Ideen, seine Ängste und Spinnereien.
    Zum Beispiel war da dieser Streit, den sie wegen der Führerscheine gehabt hatten. Das war in der Anfangszeit gewesen, als Ryan gerade das College geschmissen und angefangen hatte, für Jay zu arbeiten, als er dauernd in andere Staaten gefahren war und die Straßenverkehrsämter abgeklappert hatte.
    Damals war Ryan nicht so richtig klar gewesen, was er eigentlich tat. Er dachte sich schon, dass es irgendwie illegal war, aber schließlich waren alle möglichen Dinge illegal, ohne dass sie unbedingt jemandem schadeten. Er versuchte noch immer zu kapieren, was eigentlich mit ihm passiert war: sein Entschluss, das College zu schmeißen. Die Tatsache, dass er seine Eltern nicht angerufen hatte, die «Suche» nach ihm, die sich irgendwie verselbständigt hatte. Er versuchte noch immer, sich mit der Vorstellung abzufinden, dass Jay sein richtiger Vater war, dass Stacey und Owen ihn sein Leben lang belogen hatten.
    Sich an einem kleinen zwielichtigen Unternehmen zu beteiligen passte irgendwie zur allgemeinen Unklarheit seiner damaligen Denkprozesse.
    Außerdem war es ja nicht so, dass sie Banken ausgeraubt hätten, dass sie alte

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