Identität (German Edition)
Damen überfallen oder arme Waisen betrogen hätten. Vielmehr hatte er einen Haufen Zeit damit zugebracht, einfach nur zu warten. Schlange zu stehen. Auf Plastikstühlen zu sitzen, gegenüber den Schaltern von immer neuen Führerscheinstellen. An den Wänden aufgehängte Plakate zu lesen, die über die Gefahren von Alkohol am Steuer und Fahren ohne Gurt und so weiter informierten.
Er sah den anderen zu, wie sie ihre theoretische Prüfung ablegten und ihre Anträge ausfüllten, achtete darauf, welche Fragen ihnen gestellt wurden, welche Probleme auftraten – keine Sozialversicherungskarte, keine Geburtsurkunde, keine Aufenthaltsbescheinigung.
Mit der Zeit hatte er angefangen, sich besonders für das Thema Organspenden zu interessieren. Für die Beamten war es eine Routinefrage. «Wären Sie gern Organspender?», fragten sie und leierten dann ihren Text herunter: «Der Eintrag in das Spenderverzeichnis ist eine Möglichkeit, Ihre rechtsverbindliche Einwilligung zur Entnahme Ihrer Organe, Gewebe und Augen im Todesfall zu erklären, zur beliebigen Verwendung im Rahmen der gesetzlichen Richtlinien. Durch eine Organspende könnten Sie bis zu sieben Leben retten, und durch Gewebe- und Augenspenden die Lebensqualität von bis zu fünfzig Menschen verbessern. Darf ich diese Gelegenheit nutzen, um Sie in das Verzeichnis aufzunehmen?»
Ryan war überrascht zu sehen, wie viele Leute sich von dieser Frage überrumpelt fühlten. In Knoxville zum Beispiel war ein Althippie gewesen, grauer Pferdeschwanz und abgeschnittene Jeans, der laut losgelacht hatte. Ryan sah, wie sein Grinsen plötzlich ins Wanken geriet, als er kurz an seinen Tod dachte. Ans Aufgeschnitten- und Zerlegtwerden. «Hehe», sagte der Mann, und dann zuckte er die Schultern und machte eine großspurige Geste. «Ja … klar doch!», sagte er. «Klar, Gott, warum nicht?» Als ob das eine besondere Heldentat wäre, für die ihn die anderen bewundern würden.
In Indianapolis war eine alte Frau im zitronengelben Hosenanzug gewesen, die lange über die Frage nachgedacht hatte. Sie wurde sehr ernst und feierlich und legte die Hände übereinander. «Tut mir leid», sagte sie. «Wir glauben nicht an so was.»
In Baltimore hatte es den knallhart aussehenden Hip-Hop-Typen gegeben, straff über die Brust gespanntes Muskel-T-Shirt, tiefhängende Schlabberjeans, aus denen oben die Boxershorts rausguckten. Aber er rückte in echtem – fast kindlichem – Entsetzen von der Angestellten ab. «Nein, Ma’am», sagte er. «N-nh.» Als könnte im Hinterzimmer schon jemand mit Säge und Skalpell warten.
Ryan dagegen hatte keinerlei Bedenken. Für ihn war es eine elementare altruistische Tat, wie Blutspenden oder etwas Ähnliches. Genau das, was man tun sollte, hatte er gedacht – bis er an diesem Wochenende mit seiner Ausbeute an falschen Ausweisen zu Jay gekommen war:
«Was soll der Scheiß?», hatte er gesagt. Er war guter Laune gewesen, bis er angefangen hatte, die Führerscheine durchzusehen, die Ryan ihm gegeben hatte. «Ryan, Mann, du hast dich bei jedem einzelnen dieser verdammten Dinger als Organspender eintragen lassen.»
«Äh …», sagte Ryan. «Ja?»
«Verdammte Kacke!», sagte Jay – und sein Gesicht rötete sich auf eine Weise, wie Ryan es noch nie gesehen hatte. Jay kultivierte einen Gammlerlook – das glatte schwarze Haar schulterlang, die Klamotten aus dem Secondhandladen und gut abgelagert. Aber jetzt nahm sein Gesicht einen beeindruckend harten, bedrohlichen Ausdruck an. «Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Mann?», sagte Jay und knirschte abrupt mit den Zähnen. «Bist du übergeschnappt? Die können wir jetzt alle auf den Müll schmeißen!»
«Aber –», sagte Ryan. «Tut mir leid, ich kapier nicht, wovon du redest.»
«Herr Jesus», sagte Jay. «Ryan, was passiert, wenn du deinen Namen in ein staatliches Organspenderverzeichnis aufnehmen lässt?» Seine Stimme war leiser geworden, und er sprach langsam und betont und skandiert: Organ . Spender . Verzeichnis . Jedes einzelne Wort ein Luftballon, in den er mit einer Nadel stach.
«Ich weiß nicht», sagte Ryan. Er war völlig platt und versuchte, die Sache mit einem beiläufigen Ton, einem vorsichtigen, entschuldigenden Achselzucken zu überspielen. Aber Jay starrte ihn weiterhin wütend an.
«Ist dir klar, dass du Staats- und Bundesbehörden das uneingeschränkte Recht zur Einsicht in deine Krankenakten gewährt hast? Die ärztliche Schweigepflicht kannst du dir von nun an in die Haare
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