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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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schmieren. Die Typen sind jetzt berechtigt, jedes medizinische Dokument, das dich betrifft, anzufordern – ärztliche Untersuchungen, Labortests, Blutspenden –»
    «Das wusste ich nicht», sagte Ryan und sah Jay zweifelnd an. Machte er Witze? «Bist du sicher? Das klingt nicht –»
    «Klingt nicht was?», sagte Jay grimmig.
    «Ich weiß nicht», sagte Ryan wieder. Er dachte: Das klingt nicht so, als ob es wahr wäre . Aber er sprach es nicht aus.
    «Du wusstest es nicht», sagte Jay. «Hast du den Vertrag nicht durchgelesen, den du unterschrieben hast?»
    «Ich habe keinen Vertrag unterschrieben.»
    «Natürlich hast du einen Scheißvertrag unterschrieben!», sagte Jay, und seine Stimme kochte jetzt vor Empörung. Gezügelter Verachtung. «Du hast ihn bloß nicht durchgelesen, Kumpel. Oder? Die haben dir gezeigt, wo du unterschreiben solltest, und du hast unterschrieben, hab ich recht? War’s nicht so?»
    «Jay», sagte Ryan, «das war doch nicht mein richtiger Name.»
    «Glaubst du, das spielt eine Rolle?», sagte Jay. «Die Namen auf diesen Ausweisen sind unsere Namen. Wir haben hart dafür gearbeitet, diese Namen zusammenzubekommen. Sie sind für uns Gold wert. Und jetzt können sie von Regierungsstellen beliebig überwacht werden. Vollkommen nutzlos!» Er schüttelte eine der laminierten Karten zwischen Daumen und Zeigefinger, sah sie angewidert an und schleuderte sie dann gegen die Wand, wo sie mit einem Tick! abprallte. «Total. Im Arsch. Scheiße! Kapierst du jetzt?»
     
    Es gab Seiten an Jay, aus denen er noch nicht schlau geworden war – seine unberechenbaren Wutausbrüche, seine philosophischen Spinnereien, die angeblichen Fakten, die wie erfunden klangen und die er sich, wie Ryan vermutete, größtenteils aus verschwörungstheoretischen Websites zusammengelesen hatte.
    Glaubte Jay zum Beispiel wirklich an den Quatsch mit den Chakras? Meinte er es ernst, wenn er das Ouija-Brett auf dem Couchtisch konsultierte oder wenn er anfing, über verschiedene «Schattenregierungs-Organisationen» wie die Omega Agency Reden zu schwingen, oder über Geheimgesellschaften wie die Bildenberg-Gruppe und den Order of Skull and Bones von Yale und das globale Überwachungsnetzwerk Echelon?
    «Wir haben nicht die leiseste Ahnung, was unsere Regierung treibt», sagte Jay, und Ryan nickte unsicher.
    «Deswegen habe ich auch nie das Gefühl gehabt, kriminell zu sein», sagte Jay. «Die eigentlichen Gangster sind die Typen, die dieses Land regieren. Das weißt du doch, oder? Und wenn du nach deren Regeln spielst, bist du nichts anderes als ihr Sklave.»
    «M-hm», sagte Ryan und versuchte, Jays Gesichtsausdruck zu deuten.
    Machte er Witze? War er jetzt übergeschnappt?
    Gelegentlich war sich Ryan durchaus bewusst, dass die Entscheidungen, die er getroffen hatte, einem unbeteiligten Beobachter unglaublich leichtsinnig vorkommen mussten. Wer würde schon ausgeglichene, liebende Eltern verlassen, um sich mit jemandem wie Jay zusammenzutun? Wer würde eine solide College-Ausbildung aufgeben, um ein Gauner zu werden, ein berufsmäßiger Lügner und Dieb? Warum war es ihm eine solche Erleichterung, zu wissen, dass er nie wieder Teil seiner anständigen Familie sein würde, nie wieder einen College-Kurs besuchen, dass er nie einen Lebenslauf schreiben, nie ein Vorstellungsgespräch führen, nie würde versuchen müssen, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen und an den verschiedenen zyklischen Freuden der Mittelschicht teilzuhaben, die Owen so viel bedeutet hatten?
    Die Wahrheit war, dass er eher Jay als seinen Eltern ähnelte; und das hatten sie nie begriffen.
    Staceys und Owens Leben, sagte er sich, waren nicht realer als die Dutzende, die er im Lauf des letzten Jahres erschaffen hatte, die virtuellen Leben des Matthew Blurton, Kasimir Czernewski oder Max Wimberley. Die meisten Menschen, sagte er sich, hatten Identitäten, die so gehaltlos waren, dass man davon leicht hundert auf einmal gemanagt bekam. Ihre Existenz kratzte gerade mal an der Oberfläche der Welt.
    Natürlich, wenn man wollte, konnte man sich auch in ein, zwei virtuellen Personen inkarnieren, die mit der Zeit mehr Gewicht gewannen. Wenn man wollte, sagte Jay, konnte man dabei auch eine Frau, ja sogar eine ganze Familie haben. Er sagte, er wisse von einem Typen, der irgendwo in Arizona Stadtrat war – und gleichzeitig Immobilienmakler in Illinois und dazu Handlungsreisender mit Frau und drei Kindern in North Dakota.
    Und schließlich gab es die Leute,

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