Identität (German Edition)
die tatsächlich in sich Bedeutung hatten, einflussreiche Individuen werden konnten. Die Arbeit an einer solchen Identität musste wahrscheinlich schon sehr früh beginnen, dachte Ryan, vielleicht schon in der Kindheit. Man brauchte ein bestimmtes, klares Ziel, und nach und nach mussten sich alle abstrakten Elemente wie Glück und die äußeren Umstände um einen herum anordnen. Wie zum Beispiel ein Rockstar werden, sich ein Talent und einen Namen aufbauen, sich in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit emporarbeiten. Mit diesem Gedanken hatte er ziemlich lange gespielt, ihn reizte die Vorstellung, sich in einen berühmten, erfolgreichen Singer-Songwriter zu verwandeln, aber gleichzeitig wusste er, dass er dazu nie wirklich gut genug sein würde. Er spürte seine Grenzen, erahnte die Straßensperren, die schon hinter der nächsten Kurve dieses Wunsch-Lebensweges lauerten – und jetzt mal ehrlich, wenn man wusste, dass man wahrscheinlich scheitern würde, wo war dann der Witz? Wozu es erst versuchen? Wenn man Dutzende mittelmäßiger Leben führen konnte – war das nicht ebenso viel wert wie ein herausragendes?
Das alles ging ihm wieder durch den Kopf, während er durch den Flughafenterminal von Portland, Oregon, schlenderte. Den Mietwagen unauffällig verlassen, das Prepaid-Handy unter dem Schuhabsatz zerquetscht und in eine Mülltonne geworfen, den brandneuen Führerschein auf den Namen Max Wimberley samt Flugticket dem Security-Mann an der Personenkontrolle vorgezeigt, Rucksack und Laptop und Schuhe und Gürtel in Plastikeimer gelegt und mit dem Rollband durch den Gepäckscanner geschickt, und dann war er selbst, Max Wimberley, durch den türrahmenförmigen Metalldetektor gewinkt worden. Ohne Zwischenfall. Alles ganz einfach, keine Probleme, nicht der geringste Anlass zur Sorge. Max Wimberley konnte sich weit unbeschwerter und gewandter durch die Welt bewegen, als Ryan Schuyler es je fertiggebracht hätte.
«Okay», murmelte er in sich hinein. «Okay.»
Er saß im Boarding-Bereich mit einem Schoko-Joghurt-Eisshake und einem Guitar -Magazin, den Rucksack neben sich auf dem nächsten Sitz. Rasch und unauffällig musterte er die anderen Leute in seiner näheren Umgebung. Mitteljunge, hyperangespannte Geschäftsfrau mit einem Palm Pilot. Ältliches händchenhaltendes Ehepaar. Athletischer Typ mit Red-Sox-Kappe. Usw.
Niemand, der ihm im Entferntesten bekannt vorkam.
Während der Reise waren keine Halluzinationen aufgetreten, und er nahm an, dass das ein Zeichen war. Die letzten Spuren seines früheren Lebens verblassten endlich. Die Umwandlung war fast abgeschlossen, dachte er, und er erinnerte sich an die längst vergangenen Zeiten, in denen er durch die Gegend gefahren war und dabei versucht hatte, im Kopf einen Brief an seine Eltern zu verfassen.
Liebe Mom und Dad , dachte er. Ich bin nicht der Mensch, für den Ihr mich gehalten hattet .
Ich bin nicht dieser Mensch , dachte er, und dann erinnerte er sich an diese Kübler-Ross-Phasen, von denen Jay ihm erzählt hatte. Es war nicht nur so, dass Ryan Schuyler tot war: Ryan Schuyler hatte überhaupt nie existiert. Ryan Schuyler war lediglich eine Hülse, die er eine Zeitlang benutzt hatte – vielleicht sogar noch weniger real als Max Wimberley.
Er schaute hinunter auf seine Bordkarte, und fast spürte er, wie der verbleibende Rest von Ryan Schuyler aus ihm verdunstete, eine kleine gespenstische Fledermaus mit einem menschlichen Gesicht, die sich in einem Sprühregen winziger Mücken auflöste und zerstreute.
«Okay», flüsterte er und machte kurz die Augen zu. «Okay.»
Es war spät, 1 : 44, und warm, als er nach einem Fliegerwechsel in Phoenix in Detroit Metro landete. Er ging zielstrebig durch den ausgestorbenen Terminal zum Parkhaus für Langzeitparker, wo Jays alter Econoline auf ihn wartete. An einer Tankstelle hielt er an, um sich einen Energydrink zu kaufen, und dann war er schon auf der Interstate und rollte – entspannt, wie er fand – bei laufender Musik dahin. Er kurbelte die Fenster herunter und sang eine Weile mit.
Nördlich von Saginaw bog er auf einen Highway in westliche Richtung und dann auf eine zweispurige Landstraße, überquerte eine Eisenbahntrasse – die Häuser immer weiter auseinander, das Licht seiner Scheinwerfer ein Tunnel durch endlosen Wald. Einige Bäume knospten schon frühlingshaft, andere reckten nur tote kahle Skelettzweige in die Luft, in alte Gespinste von Wollspinnerraupen vermummt. Gelegentlich kam er
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