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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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, wie er sie nannte, zu verfolgen. Ecuador. Russland. Afrika. Eine Zeitlang habe ich mir wohl eingeredet, ich käme vorwärts. Ich näherte mich allmählich meinem Ziel, obwohl –»
    Sie lächelte angespannt, müde, und Miles nickte.
    «Ja», sagte er.
    Er kannte die Erschöpfung, die sich nach ein paar Jahren bemerkbar machte. Um Hayden aufspüren zu wollen, brauchte man eine besondere Ausdauer, eine geduldige Aufmerksamkeit für winzige Details, die vielleicht nirgendwohin führen würden. Man brauchte die Beharrlichkeit eines Forschers, der eine Küste kartographierte, die sich in immer neuen Buchten und Vorsprüngen zum Horizont hinschlängelte und deren Ende unerreichbar war.
    Manchmal dachte er an den Herbst, in dem ihr Vater gestorben war. Damals hatte Hayden gerade seine Faszination für irrationale Zahlen entdeckt, für Fibonacci-Zahlen und den Goldenen Schnitt, hatte Rechtecke und Nautilusschalen gezeichnet und Seiten über Seiten eines Notizbuches gewissenhaft mit den niemals endenden Dezimalstellen des Größenverhältnisses vollgeschrieben.
    Miles erlebte währenddessen sein erstes Halbjahr Algebra als eine fast unerträgliche Qual. Er starrte auf die Gleichungen und schaffte es nicht, ihnen auch nur den geringsten Sinn zu entlocken – nichts als ein Kribbeln hinter seiner Stirn, als ob sich die Zahlen in seinem Gehirn in Ameisen verwandelt hätten. Er saß da und starrte die Aufgaben böse an – oder, schlimmer noch, er fing an, sie zu lösen, und geriet dabei auf unerklärliche Abwege, sodass er eine Zeitlang meinte, die richtige Methode gefunden zu haben – nur um zuletzt erkennen zu müssen, dass x nicht gleich 41,7 war. Nein, x war gleich − 1, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie das sein konnte. Abend für Abend vor einem Blatt mit solchen Gleichungen zu sitzen war die schlimmste Mühsal, die er jemals erlebt hatte, und so fühlte sich sein Verstand schließlich an, als sei er zu einem schütteren Gewebe von hauchdünnen, fast gewichtslosen Fäden zerfressen worden.
    «Ich bitte dich», sagte Hayden immer, und dann nahm er Miles freundlich das Blatt aus der Hand und zeigte ihm zum soundsovielten Mal, wie einfach das war. «Du bist so ein Esel, Miles», sagte Hayden. «Jetzt pass doch auf. Es ist ganz einfach, wenn du einen Schritt nach dem anderen machst.»
    Aber Miles war an dem Punkt häufig schon den Tränen nah. «Ich kann’s nicht», sagte er dann. «Ich kann nicht richtig denken!»
    Es war diese Frustration, dieses Gefühl von Vergeblichkeit, an das er sich später erinnern sollte, als er seine Suche nach Hayden aufnahm. Er entdeckte das gleiche Gefühl in Lydia Barries Gesichtsausdruck.
     
    Lydia fuhr sich mit den Fingern sanft durch die Haare und blickte skeptisch auf ihr Longdrink-Glas hinunter, das – abgesehen von einer Limettenscheibe, die embryonal gekringelt auf dem Boden lag – nichts mehr enthielt. Sie war, wie Miles vermutete, leicht betrunken und sah jetzt weniger vornehm aus als vorhin. Ihr Haar hatte seine vormals makellose Form aufgegeben, und ein paar Strähnen standen ab. Als der unverbindliche Barkeeper mit Pferdeschwanz vorbeikam, um zu hören, ob sie einen weiteren Drink wollte, nickte sie. Miles hatte sein Bier noch in Arbeit.
    Die Bar war dunkel und ohne Fenster und erzeugte das angenehme Gefühl von Nacht, obwohl draußen nach wie vor die Sonne schien.
    «Es ist komisch», sagte Lydia und schaute trübsinnig zu, wie erst eine Serviette und dann das nachgefüllte Glas vor ihr auf dem Tresen erschienen. «Ehrlich, ich muss an die dreißigtausend Dollar für Detektive ausgegeben haben, und ab einem bestimmten Punkt habe ich, glaube ich, nur noch weitergemacht, weil ich nicht das Gefühl haben wollte, dass das alles nur rausgeschmissenes Geld gewesen war. Ich weiß nicht», sagte sie und seufzte. «Ich könnte mir schon denken, warum Rachel gegangen ist und nie wieder Kontakt mit mir aufgenommen hat. Ich könnte verstehen, warum sie nicht mehr mit mir reden wollte. Ich habe damals ein paar sehr unfreundliche Dinge zu ihr gesagt, weil sie nicht zum Begräbnis unserer Mutter gekommen war. Ich habe ein paar Dinge gesagt, die ich bedaure. Aber bei unserer Schwester Emily hat sie sich auch nicht wieder gemeldet. Oder bei Tante Charlotte. Ich kann mir denken, dass sie sehr unglücklich war, und vielleicht hat sie der Tod unserer Mutter so mitgenommen, dass sie nicht die Kraft hatte, sich ihm zu stellen. Aber wer verlässt einfach so seine Familie? Was für

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