Identität (German Edition)
gewandt, an einer belebten Straßenecke auf der Hennepin Avenue in Minneapolis, spannte einen Schirm auf und verschwand mit schnellem Schritt in einer Menschenmenge.
Da saß Walcott am Fenster eines Busses voll von grölenden Verbindungsbrüdern, in Philadelphia, nicht weit von der Penn. Ryan stand mit aufgerissenen Augen da, während die Männer, schief und unmelodisch zu Bob Marley singend, an ihm vorbeifuhren.
Ihre – seine und Walcotts – Blicke trafen sich, und für einen Moment hätte Ryan schwören können, dass er es wirklich war, obwohl der Walcott im Bus lediglich zu ihm hinausschaute und weiter zum Song die Lippen bewegte, Every little thing gonna be allright sangen sie, und Ryan nahm eine Bewegung über sich wahr, den Schatten eines Vogels oder einer Wolke, die über ihn hinwegzog.
So muss es sein, wenn man einen Geist sieht, dachte er, obwohl er ja von ihnen beiden der Tote war.
Er wusste, dass sie es nicht wirklich waren, dass alles nur ein Gespinst von Unterbewusstem war, eine fehlgeschaltete Erinnerungssynapse, ein unverdautes Stück Vergangenheit, das ihm einen Streich spielte. In letzter Zeit hatte er seinen Gedanken zu sehr die Zügel schießenlassen, sagte er sich; mehr steckte nicht dahinter. Er musste sich sammeln. Er musste meditieren, wie Jay vorgeschlagen hatte. «Du musst deine innere Ruhe finden», riet ihm Jay, und eines Tages, nach einer besonders stressigen Fahrt, hörten sie sich gemeinsam eine von Jays Entspannungs-CDs an. «Stell dir einen Kreis von Energie vor, nahe dem unteren Ende deiner Wirbelsäule», befahl ihnen die CD, während sie, die nackten Füße auf dem Boden, im verdunkelten rückwärtigen Zimmer in Sesseln saßen. «Atme ein … atme aus … und lass deine Atmung tief und gleichmäßig werden …»
Und es war wirklich entspannend, bloß dass es nichts half. Die Woche darauf, in Houston, hatte er gemeint, Pixie zu sehen – zwar mit längerem und dunklerem Haar, aber durchaus wiederzuerkennen –, ja, praktisch unverändert, wie sie da vor dem Marriott auf dem Bordstein saß und eine Zigarette rauchte und mit einer zugleich gelangweilten und wehmütig-nachdenklichen Miene an dem Ring in ihrer Augenbraue herumspielte.
Nein.
Sie war es nicht: Sobald er aus dem Taxi ausgestiegen war, konnte er erkennen, dass diese Frau Mitte, Ende dreißig war, vielleicht sogar über vierzig. Wie hatte er auch nur eine entfernte Ähnlichkeit sehen können? Es war so, als sei sie nur eine Sekunde lang Pixie gewesen, nur ein paar klickende Schnappschüsse aus dem Augenwinkel lang. Ein weiteres kleines Spielchen, das sein Gehirn mit ihm getrieben hatte.
Trotzdem.
Trotzdem, dachte er, war es nicht ausgeschlossen: Selbst in einem Land mit dreihundert Millionen Einwohnern lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass er irgendwann wirklich jemandem begegnen würde, den er früher gekannt hatte.
Tatsächlich war er ziemlich sicher, in einer Bar auf dem Flughafen von Nashville seine frühere Psychologie-Dozentin, Ms. Gill, gesehen zu haben. Sein Anschlussflug hatte Verspätung gehabt, und er hatte sich die Wartezeit im Terminal von Nashville International vertrieben, war auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich abzulenken, mit seinem Trolley-Handgepäck an Zeitungskiosken, Schnellimbissen und Andenkenläden vorbeigeschlendert, und da war sie auf einmal gewesen. Sie saß im Gibson Café unter irgendwelchen denkwürdigen Gitarrenmodellen und hatte, als er vorbeigegangen war, einen zerstreuten Blick auf ihn geworfen. Und dann waren sich ihre Augen begegnet, und er hatte gesehen, wie sich ihre Miene anspannte, eine plötzliche Aufmerksamkeit über ihr Gesicht huschte.
Es sah aus, als ob er ihr irgendwie bekannt vorkäme; sie rätselte jetzt sichtlich. Sein Kopf war rasiert, und er trug eine Pilotenbrille und eine kurzärmlige Uniform vom Sicherheitsdienst, deswegen wäre nicht zu erwarten gewesen, dass sie überhaupt zweimal hinschauen würde. Aber sie tat es. War das nicht einer ihrer ehemaligen Studenten? Sah er nicht aus wie der Junge, der ums Leben gekommen war – sich das Leben genommen hatte –, der Junge, der auf dem besten Weg gewesen war, in ihrem Kurs durchzufallen? Der in ihr Büro gekommen war, um zu fragen, ob er nicht irgendetwas tun könne, um seine Note aufzubessern?
Nein. So weit war sie bestimmt nicht gekommen. Er kam ihr einfach nur entfernt bekannt vor, und sie musterte ihn eine Sekunde lang – eine traurige ledige College-Dozentin mit einem
Weitere Kostenlose Bücher