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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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ein Mensch entschließt sich, alles hinzuwerfen und – sich neu zu erfinden ? Als ob man die Teile seines Lebens, die man nicht mehr haben will, einfach wegwerfen kann. Manchmal denke ich, tja, so steht es mit uns, als Gesellschaft. So sind die Menschen heutzutage eben. Wir wissen Beziehungen nicht mehr zu schätzen.»
    Sie fixierte ihn, und von der beherrschten Haltung, die sie anfangs gezeigt hatte, war nichts mehr übrig. Die Luft hatte eine prekäre Spannung, ein zermürbendes Gewicht.
    «Ich habe auch ein paar krasse Dinge in meinem Leben getan», sagte sie. «Ich bin mit Leuten ins Bett gegangen, mit denen ich anschließend nie wieder ein Wort gewechselt habe. Einmal habe ich meinen Job geschmissen, bin an einem Freitag gegangen, ohne meinem Chef zu sagen, dass ich kündige oder sonst was. Ich bin einfach nicht wiedergekommen. Ich hab einmal einem Arbeitskollegen erzählt, ich wäre aufs Wellesley gegangen – wahrscheinlich wollte ich mich interessant machen, und als er mich nach ein paar Frauen fragte, die er kannte und die in Wellesley ihren BA gemacht hatten, hab ich so getan, als würde ich sie auch kennen. Weil ich ihm gefallen wollte. Aber ich bin nie verschwunden», sagte sie. Ihre Hand mit den manikürten Nägeln schloss sich um ihr Glas, und ihre Fingerkuppen wurden dadurch flach gedrückt und blutleer. «Ich habe mich nie in Luft aufgelöst, sodass niemand mich mehr finden kann. Das ist schon ein bisschen extrem, meinen Sie nicht? Das ist nicht normal, oder?»
    «Nein», sagte Miles. «Ich glaub nicht, dass das normal ist.»
    «Danke», sagte sie. Sie sammelte sich, straffte den Rücken, strich mit den flachen Händen über die Vorderseite ihrer Bluse. «Danke.»
     
    Vielleicht war sie genauso verrückt wie er, dachte Miles, obwohl er nicht so genau wusste, ob das ein tröstlicher Gedanke war. Vielleicht gab es überall auf der Welt Leute, deren Leben Hayden zerstört hatte, sie waren ein Verein, eine Matrix, die den ganzen Globus überzog, wer wusste schon, wie viele es waren? Haydens Einfluss breitete sich spiralförmig immer weiter aus, wie die Fibonacci-Zahlen, die er früher so gern aufgesagt hatte – 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 … und so weiter.
    Inzwischen hatte sich Lydia Barrie den Handballen gegen die Stirn gedrückt und die Augen geschlossen. Miles fragte sich, ob sie vielleicht eingeschlafen sei, und dachte selbst ans Schlafen. Er war so müde – so müde –, so viele Stunden Fahrt, so viele Stunden Tageslicht und Nachdenken, Nachdenken.
    Dann aber hob Lydia den Kopf.
    «Glauben Sie, sie ist noch am Leben?», flüsterte sie.
    Es dauerte einen Moment, bis Miles begriff, was sie ihn da fragte.
    «Ähm», sagte er. «Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
    «Ich frage mich, ob er sie vielleicht getötet hat», sagte Lydia Barrie. « Das meine ich. Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht irgendwo begraben liegt, wo auch immer, an einem der Orte, bis zu denen ich ihrer Spur gefolgt bin, oder an irgendeinem anderen Ort, von dem ich nichts weiß. Deswegen –»
    Aber sie vollendete den Satz nicht. Sie wollte nicht unbedingt in diese Richtung weiterdenken, also saß sie nur stumm da, die offene Hand gegen das Gesicht gepresst.
    «Natürlich nicht», sagte Miles. «Ich glaube nicht, dass er –»
    Obwohl er das in Wirklichkeit durchaus glaubte. Er stellte sich wieder einmal ihr brennendes Elternhaus vor, malte sich aus, wie seine Mutter und Mr.   Spady im Obergeschoss in ihrem Bett lagen und vielleicht zu spät aufwachten, als das Zimmer schon voller Rauch war – oder vielleicht überhaupt nicht aufwachten, sondern sich nur ein paar Sekunden lang im Schlaf wälzten: Ihre Lider flatterten auf und schlossen sich dann wieder, während der Sauerstoff immer weniger wurde und dünne, lange Flammenzungen an den Tapeten leckten.
    War es so weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Hayden Rachel Barrie etwas angetan hatte?
    «Ich habe einige Papiere oben in meinem Zimmer», sagte Lydia Barrie mit schwerer Zunge. «Ich habe einige – Dokumente.» Er betrachtete sie, wie sie ihren Gin Tonic hob. Den Rand des Glases an die Lippen führte.
    «Ich glaube, sie sind authentisch», sagte sie und tat einen langen Zug. «Ich glaube, sie könnten Sie interessieren.»

17
    MANCHMAL meinte Ryan, Leute aus seiner Vergangenheit zu sehen. Seit seinem Tod passierte ihm das regelmäßig, immer wieder diese leichten Halluzinationen, Sinnestäuschungen.
    Da stand zum Beispiel seine Mutter, den Rücken zu ihm

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