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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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flimmerte. Wenn sie eine «Attacke» hatte, legte Patricia die bizarrsten Symptome an den Tag: Ihre Stirn und Arme fühlten sich dann taub an, sie hatte das Gefühl, dass ihr Insekten über die Kopfhaut krochen, und sie meinte, die Kehle würde sich ihr zuschnüren. Äußerst melodramatisch, hatte Lucy damals mitleidlos gedacht. Sie erinnerte sich, wie sie, die Schultasche über der Schulter, in der Tür zum Schlafzimmer stand und ungeduldig eine Scheibe Toast aß, während ihre Mutter Patricia aufforderte, in eine Tüte zu atmen. «Ich krieg keine Luft!», keuchte Patricia, ihre Stimme vom braunen Papier erstickt. «Bitte, schick mich nicht in die Schule!»
    Das kam Lucy alles sehr aufgesetzt vor, obwohl – wenn sie Patricia gewesen wäre, hätte sie auch nicht in die Schule gehen wollen. Das war zu einer Zeit, als drei besonders bösartige Siebtklässler sich aus welchem Grund auch immer Patricia als Opfer ausgesucht hatten: Sie hatten eine Serie von komischen Situationen und Sketchen entwickelt, in denen Patricia als eine der Hauptpersonen auftrat, «Miss Patty Stinkfotze», die Moderatorin einer Kindersendung mit allerlei Handpuppen, für die die Jungs auch eine Reihe entsprechend dämlicher Stimmen auf Lager gehabt hatten. Zotige Jungenwitze, in denen es etwa darum ging, dass Patricia furzte oder ihre Tage hatte oder dass sie Kakerlaken im Schamhaar hatte. Lucy sah noch vor sich, wie die drei – Josh, Aaron und Elliot, sie erinnerte sich sogar noch an ihre dämlichen Namen, drei widerliche Jungen – an ihrem Tisch in der Cafeteria ihre Nummer abzogen und dabei lachten und feixten, bis ihnen die Milch, die sie tranken, wieder aus der Nase herauslief.
    Und Lucy hatte nichts unternommen. Hatte lediglich stoisch zugeschaut, als sei es nur eine besonders grausige Naturdoku, in der Schakale ein Nilpferdbaby töteten.
     
    Arme Patricia!, dachte sie jetzt und legte sich die Hand an die Kehle, die leicht zugeschnürt wirkte, und ihr Gesicht fühlte sich ein bisschen taub an und prickelte.
    Aber sie würde keine Panikattacke bekommen, sagte sie sich.
    Sie hatte ihren Körper in ihrer Gewalt, und sie würde ihm nicht erlauben, in Panik zu geraten. Also legte sie die Hände auf die Oberschenkel und atmete gleichmäßig aus, während sie unverwandt auf das Handschuhfach starrte.
    Sie stellte sich vor, das ganze Geld aus dem Tresor liege darin und sie säßen nicht in einem Pick-up, sondern im Maserati. Sie fuhren auch nicht durch die Sandhügel von Nebraska – die übrigens, so weit sie sehen konnte, auch gar nicht sandig waren, sondern lediglich ein endloser See von Wellenhügeln und -tälern, bedeckt mit Steinen und schütterem grauem Gras.
    Sie saßen im Maserati, und sie fuhren eine Küstenstraße entlang – weit unten ein mittelmeerblauer Ozean, auf dem ein paar Segelboote und Jachten schwammen. Sie schloss die Augen und füllte langsam ihre Lungen mit Luft.
    Und als sie die Augen wieder aufschlug, fühlte sie sich besser, obwohl sie noch immer in einem Pick-up-Truck saß und noch immer in Nebraska war, wo ein paar irre Felsformationen den Horizont durchkreuzten. Waren das Mesas? Buttes? Die Dinger sahen aus, als kämen sie vom Mars.
    «George», sagte sie, nachdem sie sich eine knappe Minute lang gesammelt hatte. «Ich hab gerade an den Maserati gedacht. Was machen wir eigentlich mit dem Maserati?»
    Er sagte nichts. Er war schon ungewöhnlich lange stumm gewesen, und vermutlich war es genau das, was ihre Nervosität ausgelöst hatte: die fehlende Konversation, die sie, trotz allem, vielleicht doch aufgeheitert hätte. Sie wünschte sich, er würde die Hand auf ihren Oberschenkel legen, so wie er es früher immer getan hatte.
    «George?», sagte sie. «Lebst du noch? Empfängst du gerade übersinnliche Botschaften?» Und endlich drehte er sich um und warf ihr einen Blick zu.
    «Du musst dir abgewöhnen, mich George zu nennen», sagte George Orson endlich, und seine Stimme hatte keine so beruhigende Wirkung, wie sie gehofft hatte. Ja, sie klang sogar ein wenig herb, was sie enttäuschte.
    «Wahrscheinlich», sagte sie, «möchtest du, dass ich dich ‹Dad› nenne.»
    «Stimmt», sagte George Orson. «Aber ‹Vater› ginge wohl auch, wenn es dir lieber ist.»
    «Krass», sagte Lucy. «Das ist ja noch abartiger, als dich ‹Dad› zu nennen. Warum kann ich dich nicht einfach David nennen, oder wie auch immer?»
    Und George Orson hatte sie streng angesehen – als sei sie wirklich nur eine fünfzehnjährige Göre.

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