Identität (German Edition)
an viereckigen Rodungen am Straßenrand vorbei – die einzigen Zeichen menschlicher Besiedlung. In den zwanziger Jahren hatte laut Jay die Purple Gang aus Detroit hier in der Gegend eines ihrer Verstecke gehabt.
Endlich bog er auf den schmalen Asphaltstreifen, der sich später in den unbefestigten Weg verwandeln würde, der noch tiefer in den Wald hinein und schließlich zur Hütte führte. Es war gegen vier Uhr früh. Die Verandabeleuchtung war eingeschaltet, und als er vorfuhr, hörte er, dass Jay seine Musik laufen ließ, ein Gestampfe von Hip-Hop der alten Schule, und sah, dass ein paar von Jays Computern auf dem Schotterweg lagen. Sie sahen so aus, als wäre jemand mit einem Baseballschläger auf sie losgegangen.
Und tatsächlich kam, gerade als Ryan den Motor ausschaltete, Jay heraus auf die Veranda und hatte einen silberfarbenen Aluschläger in der einen und eine Glock-Pistole in der anderen Hand.
«Verdammte Scheiße, Ryan», sagte Jay und stopfte sich die Pistole in den Hosenbund, als Ryan aus dem Kombi ausstieg. «Wo treibst du dich so lange rum?»
Im Allgemeinen pflegte Jay nicht mit Schießeisen herumzulaufen – wenngleich es in der Hütte etliche davon gab –, und Ryan wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. Er sah Jay an, dass er ziemlich betrunken, stoned und übler Laune war, und so näherte er sich dem Haus mit achtsamen schotterknirschenden Schritten.
«Jay?», sagte er. «Was ist los?»
Er folgte Jay auf die mit Fliegendraht umschlossene Veranda, vorbei am gusseisernen Holzofen und den billigen Gartenmöbeln ins Wohnzimmer, wo Jay sich schon einen weiteren Computer vorgenommen hatte. Er zog verschiedene USB- und sonstige Kabel aus den hinteren Anschlussbuchsen des Rechners, aber als Ryan hereinkam, hielt er inne und fuhr sich mit den Fingern durch das lange Haar.
«Das glaubst du nicht», sagte Jay. «Ich glaube, irgendein Arschloch hat meine Identität gestohlen!»
«Du machst Witze», sagte Ryan. Er blieb unsicher in der Tür stehen und sah Jay dabei zu, wie er den nicht mehr angeschlossenen Computer vom Tisch hob und ihn wie einen Betonblock auf den Fußboden krachen ließ.
«Was soll das heißen, ‹deine Identität gestohlen›?», fragte Ryan. «Welche denn?»
Jay sah ihn ausdruckslos an, in der Faust ein schlappes Kabel, als sei es eine Schlange, die er gerade erwürgt hatte. «Verdammt», sagte er. «Ich weiß es auch nicht. So langsam krieg ich Schiss, dass die alle verseucht sein könnten.»
«Verseucht?», fragte Ryan. Trotz der Tatsache, dass er eine Schusswaffe trug und Computer zerlegte, sah Jay noch relativ ruhig aus. Er war auch nicht so zugedröhnt, wie Ryan im ersten Moment geglaubt hatte – was die Sache noch besorgniserregender machte. «Was meinst du mit ‹verseucht›?»
«Ich hab heute zwei Leute verloren», sagte Jay, dann bückte er sich und holte aus einem Pappkarton, der unter einem der Tische im hinteren Bereich des Wohnzimmers stand, einen alten Laptop heraus. «Meine sämtlichen Dave-Deagle-Kreditkarten sind gesperrt worden, also muss sich jemand vor ein paar Tagen in ihn eingeklinkt haben. Und da bin ich nervös geworden und hab angefangen, jeden einzeln abzuchecken. Es hat sich rausgestellt, dass jemand Warren Dixons Geldmarkteinlagekonto ausgeräumt hat – irgend so ’ne faule Online-Überweisung –, und das ist eben heute früh passiert!»
«Du machst Witze», sagte Ryan. Jay schloss den alten Laptop an, und ein bedenkliches Summen verriet, dass die Kiste hochfuhr.
«Schön wär’s», sagte Jay und starrte den Bildschirm an, der mit seinem Einstiegs-Jingle zum Leben erwachte. «Sieh am besten zu, dass du deinen Arsch online kriegst, und fang an, deine Leute durchzuchecken. Ich glaube, wir stehen unter Beschuss.»
Unter Beschuss . Das hätte albern und melodramatisch klingen können, hier mitten im Wald, in diesem Zimmer, das wie eine Kreuzung aus einer Studentenbude und einem Computerreparaturladen aussah, mit der sperrmüllreifen Couch inmitten von Tischen, die mit Dutzenden von Computern, Bierdosen, Schokoriegelhüllen, Druckern, Faxgeräten, schmutzigen Tellern, Aschenbechern vollgerümpelt waren. Aber Jay hatte die Kanone im Hosenbund stecken und verzerrte, während er tippte, den Mund zu einer bösen Grimasse, und so sagte Ryan nichts.
«Weißt du was?», sagte Jay. «Warum besorgst du uns nicht Flugtickets? Guck, ob du uns nicht zwei Flüge ins Ausland buchen kannst. Egal wohin, Hauptsache Dritte Welt. Pakistan.
Weitere Kostenlose Bücher