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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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genausowenig wie Vittoria bösartig zu ihrem Mann ist. Ich würde eher sagen, die Perettis sind
     aus einem Stoff gemacht, der nicht robust genug ist, um den Accorambonis zu widerstehen. Nicht zufällig verdrängen die Mauersegler
     die Schwalben: |53| ihre Schnäbel sind größer, krummer und härter. Ich will niemanden tadeln. Ich sage nur, wie ich die Dinge mit meinem bißchen
     Verstand sehe.
    Signor Peretti ist immer sehr gütig zu den Meinen gewesen und hat ihnen geholfen, als vor zwei Jahren das Boot meines Vaters
     an den Felsen Schaden nahm. Er hat sich auch außerordentlich nachsichtig meinem Bruder Domenico gegenüber verhalten. Ich schäme
     mich sehr, es zu gestehen: Domenico ist ein Bandit. Aber wer wüßte nicht, daß es in diesem unglückseligen Land fast in jeder
     Familie und sogar in den adligen Familien einen Taugenichts gibt. Zu meinem großen Unglück bilden die Accorambonis da keine
     Ausnahme.
    Um auf Domenico zurückzukommen: er ist zehn Jahre älter als ich und unter meinen acht Geschwistern der einzige Linkshänder.
     Als Kind wurde er deswegen von meinem Vater windelweich geschlagen, damit er »wie ein Christenmensch« seine rechte Hand benutze.
     Aber die Schläge konnten nichts ausrichten. Selbst in der Kirche bekreuzigte sich Domenico mit der Linken. Was unseren Pfarrer
     sehr beunruhigte. Er sah darin eine Arglist des Bösen und gab meiner Mutter, wenn sie zur Beichte kam, zu verstehen, daß Domenico
     wenig Aussicht auf die ewige Seligkeit hätte, wenn er sich nicht besserte.
    Domenico änderte sich nicht, und so nannte man ihn in Grottammare nicht mehr beim Vornamen – der schließlich der eines Heiligen
     ist –, sondern
il mancino
(der Linkshänder). Spitznamen sind in Grottammare nichts Ungewöhnliches, aber man sprach
il mancino
anders aus, als wenn man
il zoppo
(der Hinkefuß) oder
il cieco
(der Blinde) gesagt hätte. Jeder wußte, daß Blindsein ein Unglück ist, aber Linkshänder zu sein ist heimtückisch, wie unser
     Pfarrer sagte.
    Da Domenico alles mit der falschen Hand machte, wunderte sich niemand, daß er auf die schiefe Bahn geriet. Mit achtzehn zerstritt
     er sich mit meinem Vater, lief von zu Hause weg und wurde Bandit. Wenn er abgebrannt oder krank war, kam er zurück und versteckte
     sich bei uns in Grottammare, wo mein Vater ihn aufnahm, ohne ihn eines Blickes oder Wortes zu würdigen; meine Mutter durfte
     ihm zu essen geben und ihn pflegen. Alle in Grottammare wußten Bescheid, wenn er da war, doch keinem Polizeioffizier wäre
     es eingefallen, ihn in seinem Nest hochnehmen zu wollen. Er hätte es mit meinem Vater und meinen |54| vier Brüdern zu tun bekommen und bei länger andauerndem Tumult auch mit den anderen Bootseignern.
    Wegen seiner Missetaten war
il mancino
aus Rom verbannt. Doch manchmal, wenn er in der Nacht kam, gewährte ihm Signor Peretti auf meine inständige Bitte hin Gastfreundschaft
     und seinen Schutz. Er hat sich in dieser Sache sehr um Domenico verdient gemacht, denn als der
Bargello della Corte
1 davon erfuhr, hielt er ihm eine Strafpredigt, die er mit folgenden Worten schloß:
    »Signor Peretti, Ihr nährt eine Schlange an Eurem Busen, die Euch früher oder später beißen wird.«
    »Es liegt in der Natur der Schlange zu beißen«, entgegnete Peretti lächelnd, »was kann sie dafür?«
    »Wie Euch beliebt«, sagte der Bargello. »Ich habe Euch jedenfalls gewarnt.«
    Trotzdem hat der Bargello wenige Wochen später den Bannfluch aufgehoben. Ich muß gestehen, daß ich mich immer sehr freue,
il mancino
wiederzusehen, obwohl er Bandit geworden ist. Er ist mir von meinen fünf Brüdern der liebste.
    Als kleines Mädchen war ich stolz und überglücklich, wenn ich mit ihm im gleichen Bett schlafen durfte. Sobald die Kerze gelöscht
     war, streichelte er mir mit sanfter leichter Hand den Bauch und die Brust und drückte kleine Küsse auf meinen Hals. Seine
     Liebkosungen verursachten mir wohlige Schauer. Als ich jedoch in die Pubertät kam, wollte mich meine Mutter nicht mehr bei
     meinen Brüdern schlafen lassen, und ich teilte fortan das Bett meiner beiden großen Schwestern, zwei Weibsbilder, die nicht
     so zärtlich zu mir waren.
    Il mancino
hat einen dunklen Teint und schwarzes Haar. Von der Figur her ist er eher klein, doch schlank, drahtig und sehr muskulös.
     Sein Gang ist ein wenig schief, und er läuft auf ganz leisen Sohlen. Er spricht mit sanfter Stimme, und seine Augen sind ebenfalls
     sanft, vor allem wenn sie auf mich gerichtet

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