Idol
dabei sammetweichen
Stimme sie rezitierte. Ich wüßte ihr mit keiner Metapher wie Vogelgesang oder kristallklarer Glockenklang gerecht zu werden.
Die Stimme, die Diktion, das Mienenspiel und der Ausdruck ihrer großen blauen Augen machten diese Rezitation zu einem einzigartigen
Erlebnis, dessen Zauber ich bis heute spüre, sooft ich daran denke. Montalto, der dem
bello muto
ein Zeichen gegeben und sich mit dessen Hilfe erhoben hatte, stand da, auf seine Krücken gestützt, betrachtete Vittoria lange
und sagte mit so sanfter Stimme, wie ich ihn nie hatte reden hören:
»Wenn du verheiratet bist, Vittoria …«
»Was? Mein Vater!« rief Francesco, trunken vor Glück. Doch Montalto wies ihn mit einer kurzen Handbewegung zurück, als ob
er eine Fliege verscheuche, und fuhr fort:
»Wenn du verheiratet bist, Vittoria, würde ich mich freuen, wenn deine häuslichen Pflichten dir die Zeit ließen, einem alten
kranken Mann gelegentlich etwas vorzulesen.«
»Oh, mein Vater, ich wäre darüber sehr glücklich!« rief Vittoria und warf sich ihm in einer plötzlichen Aufwallung von Zuneigung
und Herzlichkeit zu Füßen.
Und als Vittoria den Palast des Kardinals verließ, hatte sie wahrlich Grund genug zur Zufriedenheit. Sie hätte frei nach Julius
Cäsar sagen können:
Ich kam, er sah mich, und ich siegte.
Ich weiß allerdings nicht, ob sie in ihrem Innersten sehr erfreut war über diesen Sieg, der zumindest bewirkte, daß sie durch
eine Heirat mit Francesco ihre Familie und sich selbst vor Not bewahren konnte. Ich hatte beobachtet, daß sie Francesco während
der Unterredung nicht ein einziges Mal angesehen hatte.
Sie war wirklich sehr jung. Vielleicht liebte sie zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens die Heirat mehr als den Ehemann.
Das überraschendste an dieser Begegnung aber waren die verblüffenden Worte, die Montalto an ihrem Ende sagte und die indirekt
einen so großen, zunächst unheilvollen, in der Folgezeit jedoch segensreichen Einfluß auf mein Leben haben sollten.
Sowie Vittoria das Zimmer verlassen hatte – und ihm mit |48| einem Schlag die Wärme und das Licht entzog, die ihre Anwesenheit verbreitet hatte –, schleppte sich Seine Eminenz auf seinen
Krücken bis ans Fenster und sah, mit dem Rücken zu uns, Vittoria nach, die an der Seite Francescos über den Hof ging. Dann
wendete er sich mühsam zu uns um – die Drehung seines schweren Körpers auf den Krücken verursachte ihm einige Probleme –,
schüttelte mehrmals den Kopf und sagte:
»Wer könnte sie sehen, ohne sie zu lieben? Wer könnte sie hören, ohne sie anzubeten?«
»Gewiß, Euer Eminenz«, sagte ich und verließ unter einem Vorwand das Zimmer, damit der Kardinal nicht gewahr werde, wie sehr
seine Bemerkung mich verblüfft und, warum nicht auch das gestehen, höchlichst amüsiert hatte.
Nun wollte es das Unglück – oder das Glück, wie die Folgezeit deutlich erwies –, daß ich am nächsten Tag im Vatikan bei Seiner
Heiligkeit zu tun hatte. Ich fand den Papst recht griesgrämig vor, ohne daß er, dessen bin ich sicher, den geringsten Grund
dafür gehabt hätte, denn er wurde von allen geliebt, erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit und führte mit perfekter
Nonchalance ein sorgenfreies Leben. Etwa einmal im Monat wurde Gregor XIII. von solcher Melancholie befallen, die von seinem
Gefolge um so mehr gefürchtet wurde, als er dabei gelegentlich Entscheidungen traf, die dem Wohl des Staates abträglich waren,
die er jedoch, von seiner Verstimmung wieder geheilt, mit der sanften Starrköpfigkeit der Schwachen nicht mehr revidieren
wollte.
Ich fand ihn also in dieser Laune vor, und der um ihn versammelte Hofstaat gab sich große Mühe, ihn zu zerstreuen. Ich wollte
ihn durch die Erzählung über die Begegnung zwischen Montalto und Vittoria aufheitern. Er hörte mir zunächst mit eher finsterer
Miene zu, doch als ich zu dem denkwürdigen Ausspruch am Schluß der Unterredung kam, rief er aus:
»Wie? Wie? Habt Ihr richtig gehört, Cherubi? Hat Montalto das wirklich gesagt? Seid Ihr sicher?«
»Ich traute meinen Ohren nicht, Euer Heiligkeit, doch er hat es gesagt.«
»Was?« schrie Gregor XIII. und mußte, seine Hypochondrie vergessend, so lachen, daß ihm die Tränen kamen. »Montalto hat wirklich
gesagt: ›Wer könnte sie sehen, ohne sie zu lieben? |49| Wer könnte sie hören, ohne sie anzubeten?‹ Ach, Cherubi! Wie schön muß das Mädchen sein, um aus diesem fühllosen Stein einen
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