Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
aktueller Schmerz gegen einen zeitlosen aus. Für die Leute der Reisegesellschaft hieß das: Der momentane Schmerz über den Verlust der guten Laune tauscht sich ein gegen den Schmerz einer Ahnung; die Langeweile ist die sanfteste Art, sich den eigenen Abgang vorzustellen. Bevor wir selbst verschwinden, flieht unsere Empfindung für das, was wir zurücklassen werden. Nach etwa fünf Minuten Stille meldete sich wieder der Mann im Lautsprecher. Er sagte: Meine Damen und Herren, wir haben ein Reh überfahren, wir setzen unsere Fahrt fort.
Was für eine Durchsage! Ein totes Reh springt unserer Ahnung bei und ist für uns gestorben. Das Pferd im Nebel hob den Kopf und schaute dem wieder anfahrenden Zug nach. Ich stellte mir vor, wie das geht: Ein tonnenschwerer Zug donnert über ein Reh. Das letzte, was von dem Tier übrigblieb, war eine Durchsage. Einer der Reisenden holte sein Handy aus der Anzugtasche, tippte eine Nummer und sagte wenig später, dass die Tage in Amsterdam ganz toll gewesen waren und dass der Zug Verspätung haben wird. Das Reh erwähnte er mit keinem Wort. Seine Angst ebenfalls nicht. Vielleicht hat er sie nicht einmal bemerkt: Das würde zu den Mysterien der Langeweile sehr gut passen.
Der Kampf gegen die eigene Biografie
Als Kind hatte ich mir einen Rummelplatz als etwas ganz Wunderbares vorgestellt. Ein zweistöckiges Karussell würde ich dort sehen, mit schaukelnden Pferden und großäugigen Drachen, von Hunderten Glühbirnen erleuchtet und von schöner Musik in Schwung gehalten. In einem Sensationszirkus würde ich endlich die Dame ohne Unterleib antreffen, außerdem einen finsteren Messerwerfer und Fattucino, den Jongleur mit den zwanzig weißen Bällchen. Ferner eine Pony-Reitbahn, in der jedes Kind für ein paar Groschen umhertraben durfte. Und natürlich ein fabelhaftes Kasperletheater mit richtigen Puppen und bunten Kostümen. Und außerdem eine Schiffschaukel, auf der ich auf und nieder schaukeln könnte … immer wieder von neuem. Als ich dann zum ersten Mal auf einem richtigen Rummelplatz umherging, sah ich ein paar einsame Losbuden mit ihren traurigen Hauptgewinnen (Plastikbären und Tüllpuppen), etliche Biertheken, wo melancholische Trinker standen und auf den Boden starrten und nichts mehr sagten; ferner eine gnadenlose Boxer-Bude, wo sich betrunkene Arbeitslose für ein bisschen Geld eine blutige Nase schlagen ließen. Und natürlich einen billigen Jakob, der nicht mehr ganz frische Bananen verkaufte.
Ich war enttäuscht und desillusioniert. Als ich nach Hause zurückkehrte und meine Mutter mich fragte, wie es denn war auf dem Rummelplatz, habe ich flott von dem nicht vorhandenen Kasperletheater erzählt, von dem sich nicht drehenden Karussell und von den nicht umhertrabenden Ponys, von denen ich auch noch behauptete, dass sie mich angeschaut hätten wie verliebte kleine Mädchen. Nach den strengen Maßstäben von Augustinus und Kant war ich, trotz meines kindlichen Alters, ein Lügner. Für sie gab es keine Ausnahme von der Pflicht zur Wahrheit – gleichgültig, welchen Schaden eine Wahrheit anrichten mag. Nach dem nicht ganz so rigiden Urteil des Literaturwissenschaftlers Peter von Matt war ich nur ein Intrigant. Denn die »Intrige«, so schreibt von Matt in seinem gleichnamigen Buch, ist »zielgerichtete Verstellung vor anderen Menschen«. Ich selbst würde mir heute sogar die Zielgerichtetheit meines kindlichen Lügens absprechen. Ich hatte, soweit ich mich erinnere, nur ein vages Unbehagen vor der komplexen Darstellung der Rummelplatz-Wahrheit. Ich hätte umfangreich erklären müssen (was ich als Kind nicht gekonnt hätte), warum ich ein so phantastisches Bild von Rummelplätzen verinnerlicht hatte, und ich hätte erklären müssen (was ich ebenfalls nicht zustande gebracht hätte), warum ich die Erwartung meiner Mutter nicht habe enttäuschen wollen. Der Soziologe Niklas Luhmann hätte mein Ausweichmanöver eine »Reduktion von Komplexität« genannt. Darum handelte es sich tatsächlich. Ich hatte geflunkert, weil mir die Darstellung der Wahrheit zu kompliziert, zu langweilig, zu unergiebig oder gar nicht verfügbar war.
Dieser »Methode« des erfinderischen Ausweichens vor irgendeiner lausigen Wahrheit bin ich bis heute treu geblieben, obwohl es ein Unterschied ist, ob man als Erwachsener oder als Kind »lügt«. Es gibt, zum Glück, auch für Erwachsene mildernde Umstände. Ich lüge manchmal nur deswegen, weil ich nicht sprechen will. Vor kurzem wurde ich zur
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