Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Es ist völlig normal, dass ein Autor nach zwei mittelmäßigen Büchern plötzlich ein ganz außerordentlich gelungenes Werk schreibt und danach wieder drei mittelmäßige. Was der Autor am Mittwoch noch konnte, kann er am Donnerstag nicht mehr. Der Autor hat von seiner Berufsarbeit kein spezifisches positives Wissen; er kriegt allenfalls eine flüchtige formale Fertigkeit zustande, die er schnell ausnutzen muss, ehe sie wieder verdampft. Das Ich der meisten Schriftsteller kämpft mit einer zentralen Erfahrung, nämlich mit dem Zusammenstoß von allgemeiner und individueller Wahrheit. Das ist die eigentliche biografische Sensation seiner Lebensarbeit. Es bleibt, oft lebenslang, unklar, welche dieser Wahrheiten die Oberhand gewinnt und welche Opfer die gewinnende Wahrheit einfordert. Egal, wie der Kampf ausgeht, es beginnt mit ihm die Entfernung eines Ichs ins subjektive Nirgendwo. Subjektivität in diesem Sinne ist nichts anderes als die endlich einsetzende Intimität einer Person mit sich selbst. Vielen Lesern ist dieser Konflikt von ihren eigenen inneren Auseinandersetzungen bekannt. Sie erkennen an diesem Punkt das Angebot der Literatur. Es ist ein Angebot des Beistands. Das zeitgenössische Gedicht, das zeitgenössische Theaterstück, der zeitgenössische Roman ist ein Kompagnon des immer gerade wegkippenden und sich dann doch wieder aufrichtenden Ichs.
Der Ernstfall Langeweile
Neulich, während eines Aufenthaltes in Amsterdam, bin ich aus Langeweile durch eine Bordellstraße gelaufen. Schon nach kurzer Zeit war ich erstaunt. Früher, und damit meine ich: noch vor etwa fünfzehn Jahren, saßen die Prostituierten direkt hinter den Scheiben ihrer Fenster und sahen den vorüberstreifenden Männern direkt in die Gesichter, und zwar aus nächster Nähe. Dabei präsentierten sie ihre Körper so vorteilhaft, wie sie nur konnten. Jetzt aber saßen die Frauen in der Tiefe ihrer Räume und interessierten sich kaum für die Männer, die draußen vorbeitrödelten. Denn jede Prostituierte (jede!) hatte einen Fernsehapparat in ihrem Zimmer. Die Männer mussten so nah wie möglich an die Scheiben herantreten, damit sie die Frauen als Ganzkörpererscheinungen überhaupt wahrnehmen konnten. Plötzlich war unklar geworden, wer oder was das Schauobjekt war. Die Verlockung eines möglichen Fehltritts war erloschen oder hatte sich verschoben. Ein paar Männer sahen ein paar Frauen beim Fernsehen zu: das war alles.
Am verblüffendsten war vielleicht, dass weder den Prostituierten noch den Männern die Verschiebung aufzufallen schien. Man hätte vielleicht lachen können: aus Verblüffung. Aber niemand lachte. Die Prostituierten hatten ernste Gesichter, die Männer ebenfalls. Nicht nur die bürgerliche Ehe und die Prostitution gehören seit langer Zeit zusammen, sondern auch das Fernsehen und die eingeschlafene Sexualität. Wenigstens meine eigene Langeweile hatte sich durch die Entdeckung der Fernsehapparate, wo ich sie niemals vermutet hätte, in ein lebhaftes Erstaunen verwandelt. Das Beste an der Langeweile ist vielleicht, dass wir plötzlich in etwas vertieft sind, worin wir uns niemals hatten vertiefen wollen. Der Anblick der öffentlich verödeten Sexualität ließ mich tief hinabtauchen in die Archäologie meiner eigenen Liebeserfahrung, in der die Langeweile (natürlich) ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt hatte. Als junger Mann hatte ich mich nicht getraut, die Langeweile eine Langeweile zu nennen. Ich war nicht einmal in der Lage, sie als solche zu erkennen. Das Mädchen hieß Karin und war Stenokontoristin (diesen Beruf gab es damals). Karin litt nicht wenig unter der Langeweile ihres Bürolebens. Ich hatte damals die Vorstellung (wo kam die nur her?), ich müsste meine gelangweilte Freundin irgendwie »unterhalten«. Ich entschloss mich, Karin täglich in ihrem Büro anzurufen und ihr am Telefon aufregende Dinge zu erzählen. Ich legte mir für jedes Telefonat mit Karin einen Spickzettel mit kleinen Geschichten und kuriosen Ereignissen zurecht. Meine Rechnung ging auf. Karin empfand mich lebendiger als alle ihre Bürokollegen zusammen.
Ich verstand nicht sofort, dass ich in einer (selbstgebauten) Falle saß. Denn natürlich musste ich Karin nun auch auf den Heimwegen, sonntagnachmittags im Café und abends beim Spazierengehen »unterhalten«. Ich schreckte nicht davor zurück, mir für diese Gelegenheiten ebenfalls kleine Spickzettel zu schreiben, die mich jederzeit mit Gesprächsstoff versorgten. Ich musste
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