Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
einer wenig überraschenden Naturmalerei geöffnet. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in den Sommermonaten in die Normandie und an die Kanalküste zu fahren. Von dort stammen auch seine »späten« Bilder. Es sind konventionelle »Seestücke« und Hafenbilder, Naturansichten von Felsenküsten und Stränden. Das heißt, ganz konventionell sind sie nicht. Es fehlt eine entscheidende Konvention, nämlich mit abgebildete Menschen. Die Naturgemälde sind keine Urlaubsbilder, keine Sommerfrischen, keine »Hotelkunst« (Adorno). Wir sehen statische Ausblicke aufs Meer, erstarrte Naheinstellungen auf verlassene Damm-Anlagen und reglose Hafengewässer. Wieder merken wir: Ein gutes Bild ist immer eine Unterbrechung des Lebens. Wenn nicht alles täuscht, erscheint die Punkte-Technik am nicht geahnten Ende seines Lebens deutlich zurückgenommen. Es hat den Anschein, als hätte Seurat, wenn er hätte weitermalen können, die Punkte-Manier vielleicht aufgegeben, um – wohin zu gelangen?
Es ist entsetzlich, dass ein solches Großtalent von einer Angina zum Aufgeben gezwungen wurde. Wenn wir uns auf die weit geöffneten Horizonte der späten Naturbilder einlassen, darf uns auch der Einfall kommen, dass der Detailmaler Seurat die Nah-Perspektive vielleicht aufgegeben hätte. Er wollte jetzt das große Panorama, den geöffneten Weitwinkel. Alles war von ihm schon tausendmal angeschaut worden, die unerhörte Ferne jedoch noch nicht. Irgendwann stellt sich jedem Künstler das Problem, dass er nicht mehr weiß, wo er hinschauen soll. Plötzlich hatte Seurat das Erlebnis, dass die Endlosigkeit der Natur das Detail überflüssig machte. Es ist tief bedauerlich, dass wir nicht wissen, wie Seurat mit diesem Schwund fertig wurde.
Die Reise, der Tagtraum, das Versteck
Dankrede für den Rinke-Preis
Ein Preis ist wichtig, weil er eine Botschaft von draußen ist. Der Preis ist eine Beruhigung darüber, dass der Autor, obwohl isoliert, inmitten der anderen lebt. Indem der Autor den Preis annimmt, gibt er zu, dass er den Zuspruch von außen braucht. Der Preis ist wichtig, weil er den Autor für ein paar Stunden von unangenehmen inneren Anfechtungen befreit.
Es bekommt uns nur selten, wenn wir unsere Leidenschaften – zum Beispiel: das Schreiben – bis zu ihrem Ende auskosten müssen. Ich habe noch von keinem Schriftsteller den Seufzer gehört: Meine letzten zwei oder drei Bücher waren leider nicht mehr auf der Höhe meiner Fähigkeiten, ich glaube, es ist besser, wenn ich das Schreiben an den Nagel hänge. Ein richtiger Schriftsteller hört nicht auf, er fängt immer wieder von vorne an. Und das nicht deswegen, weil viele Schriftsteller keine Rente bekommen, sondern weil sie von der Unvollendbarkeit ihres Werks überzeugt sind. Egal, ob sie Erfolg haben oder nicht, ob sie zur Kenntnis genommen werden oder nicht, egal auch, was in der Welt draußen vor sich geht. Ich zähle die Katastrophen nicht auf, die uns zur Zeit beunruhigen könnten, ich nenne die Gefahren nicht, die uns derzeit bedrohen. Jeder weiß, wogegen wir uns wehren müssten, wenn wir könnten. Der Katastrophendruck von außen macht auch den Text des Schriftstellers von Woche zu Woche marginaler und entbehrlicher. Der Autor ist, wie jeder andere Künstler auch, von der Theodizee der Kunst angekränkelt. Der Text, den er hervorbringt, spielt in unserem Wirklichkeitsgefühl keine Rolle mehr. In der allerneuesten Moderne hat die Literatur jede Repräsentanz verloren; sie ist entweder ein ästhetisches Spielzeug oder ein extremistischer Akt geworden, den authentisch vielleicht nur der erfahren kann, der auch in seiner privaten Lebensführung das Moment der Erosion spürt. Im Gedröhn der Selbstbehauptung und des kommerziellen Kontakts lebt der einzelne Autor mit seinen widerspenstigen Impulsen in einer selbstverhängten Verbannung, die nie jemand ausgesprochen hat, aber da ist. Soweit ich sehe, teilen nur die Kunst und die Literatur das Geschick des an den Rand gedrängten Subjekts. Die Mitteilungen, die aus der seltsamen Verbannung des Künstlers kommen, werden im geschäftigen Zentrum kaum noch verstanden. Dabei könnte das vergebliche Sprechen ein progressiver Trost sein: Wer nicht verstanden wird, spricht aus der Mitte dessen, was noch zu sagen sein wird.
Der Roman, den ich schreibe, ist nicht kompensatorisch; er löst nicht in Kunst auf, woran im Leben gelitten wird. Deswegen ist der Roman, den ich schreibe, so isoliert wie der, der ihn liest. Schriftsteller werden
Weitere Kostenlose Bücher