Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Hochzeit eines mir seit langen Jahren unsympathischen Bekannten eingeladen. Der Mann ist vierundsechzig Jahre alt, heiratet zum dritten Mal und wird anlässlich dieses Ereignisses all seine unerfreulichen Eigenschaften wieder ganz und gar ausspielen; vor allem sein Geltungsbedürfnis, seine Rede-Sucht, seine Besserwisserei, sein Glänzen-Wollen, kurz: seine ganze Egomanie. Ich sagte ihm, ich könne nicht kommen, weil ich an diesem Tag eine unaufschiebbare Besprechung in München hätte, was er mir wahrscheinlich nicht glaubte. Ich überredete meine Freundin, mich zu vertreten, was sie gern tun würde, weil sie Vergnügen daran hat, egomanische Menschen heimlich zu beobachten.
Denn oft lügen wir nicht, weil wir etwas vertuschen wollen, sondern wir lügen, weil wir nicht sagen können oder wollen, wie merkwürdig und sonderbar die Wirklichkeit für uns ist. Weite Teile der Realität sind enttäuschend und unserer permanenten Aufschönung bedürftig. Es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem wir nicht die Erfahrung machen müssten, dass wir Opfer unserer selbst erfundenen Glückspropaganda werden. Die große Liebe, der vergangene Urlaub, die erstklassige Wohnung, das tolle Auto, der treue Gatte, der neue Job – kaum etwas hält, was es verspricht. Aber die große Mehrheit der Menschen klagt nicht über die Mängel der Schöpfung. Die große Mehrheit macht etwas anderes: sie drückt ein Auge zu und setzt die Propaganda der übertriebenen Erwartung fort, deren Opfer sie selbst so oft ist. Das heißt: Die große Mehrheit lügt. Und bringt ihren Kindern und Kindeskindern gleichzeitig das Lügenverbot bei.
Aus diesem Grundwiderspruch besteht das, was wir die Lebenslüge nennen, die Fadenscheinigkeit der Doppelmoral. Das Problem ist, dass es in unseren Gesellschaften kein freimütiges Bekenntnis zur Notwendigkeit des Lügens gibt. Wir sollten unseren Kindern natürlich nicht das Lügen beibringen; aber wir sollten sie darauf vorbereiten, dass sie ohne Lügen nicht durchs Leben kommen werden. Das wissen sie zwar schon, aber sie würden sich durch ein Eingeständnis ihrer Erzieher eine Menge Seelenpein ersparen. Denn im Lügen und Lügen-Müssen liegt für das Kind der erste Zusammenstoß mit der Welt der Erwachsenen. Der Zwang zum Lügen bei gleichzeitigem Lügenverbot ruft tiefes Misstrauen hervor und, bei vielen Kindern, einen unaufhebbaren Affekt gegen die Moral derer, die ihnen dieses Taktieren durch Erziehung aufnötigen. Nicht das Lügen-Müssen ist schwerwiegend, sondern das allmähliche Sich-Einleben in eine Struktur, in der dauerhafte Zweideutigkeit einen höheren Daseinswert beanspruchen darf als irgendeine Wahrheit über dieses Dasein selber. Herman Melville hat unsere missliche Lage in diesen Seufzer verpackt: »Denn in dieser Welt der Lügen ist die Wahrheit gezwungen, wie eine verschreckte weiße Hündin durch die Wälder zu fliehen (…)«
Ich erinnere mich gut, als mich meine Mutter zum ersten Mal zum Lügen zwang. Ich war acht oder neun Jahre alt, und meine Mutter hatte sich gegen den Willen ihres Mannes entschlossen, heimlich ein wenig Geld hinzuzuverdienen. Mein Vater sollte (durfte) nicht merken, dass das von ihm verdiente Geld zum Leben nicht ausreichte, und er sollte außerdem nicht erfahren, dass seine Frau heimlich mitarbeitete, obwohl der Ertrag ihrer Arbeit der ganzen Familie (und also auch ihm) zugutekam. In den fünfziger Jahren war eine arbeitende Ehefrau noch ein »Verstoß« gegen die Ehre des Ehemannes, der sich als sogenannter »Alleinernährer« fühlen wollte. Ich sollte darauf vorbereitet sein, mit Lügen zu antworten, falls mein Vater mich einmal fragen würde, was die Mutter tagsüber so treibt. Natürlich habe ich dieser Anforderung nicht standhalten können; es waren zu viele Lügen auf einmal. Und meine Mutter machte keine Anstrengungen, mir den Sinn der Lügen klarzumachen. Mein Ausweg war: Ich floh in das Verstummen und in die gespielte Ahnungslosigkeit. Wenn mein Vater fragte, tat ich so, als würde ich seine Fragen nicht verstehen. Ich wollte meine Mutter nicht verraten, obwohl ich auch nicht lügen wollte. Genau dieser doppelte Boden ist das Gift, mit der die bürgerliche Welt seit ihrer Erfindung kämpft.
Nach meinen Beobachtungen nimmt die Lust am Schwindeln mit dem Lebensalter noch zu. Das Lügen, in der Kindheit eher ein Ausdruck von Lebensnot, wird in späteren Jahren eine virtuos gehandhabte Technik. Der Grund für die Beliebtheit des Lügens ist jetzt: der erfahrene
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