Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
oft gefragt: Warum schreiben Sie? Sonderbarerweise fragt man kaum Leser: Warum lesen Sie? Der Leser, würde man ihn fragen, wäre genauso ratlos wie der Schriftsteller. Dabei gehört es zum Wunderbarsten der Literatur, dass man sie ganz verschieden begründen kann. Die Aussicht, über den Umweg eines fremden Textes mit sich selbst zu kommunizieren, ist wahrscheinlich die stärkste Verlockung, die von Literatur ausgeht. Auch der Leser liest, um sich im Tarnanzug eines Textes seinem Allereigensten zu nähern. Mehr als je zuvor haben Leser und Schriftsteller teil am Eskapismus der einzelnen. Wir beide, mein Leser und ich, werden nicht müde, einen Unterschlupf für uns selbst zu finden. Denn wir beide, mein Leser und ich, merken deutlicher als andere, dass es in der modernen Welt beinahe von Woche zu Woche schwieriger wird, eine halbe Stunde lang unbeobachtet und also unzensiert leben zu dürfen. Fast alle meine Protagonisten weichen aus, sei es in die Reise, sei es in ein Versteck, sei es in den Tagtraum oder nur in eine aufschließende Beobachtung. Es gibt eine intime Nähe zwischen dem oft verworren scheinenden Leben der einzelnen und den Ausdrucksbewegungen moderner Literatur, die über formale Analogien weit hinausgeht. Viele Leser wissen von dieser Nähe; sie benutzen den Text als Übungsstätte für ihre Individuierung, für deren Ausdruck in den herrschenden Wirklichkeiten oft kein Platz ist. Moderne Literatur ist der immer wieder neue Versuch, Erfahrungsautonomie zu gewinnen in Umgebungen, die weder Erfahrungen noch Autonomie brauchen können.
Das Beharren auf dieser Autonomie ist auch deswegen schwierig, weil uns einige (nicht alle) zeitgenössische Philosophen immer wieder einflüstern, dass Begriffe wie Subjektivität, Individualität und Erfahrung nichts als Mythen sind, die wir getrost in den Papierkorb werfen können. Das anhaltende Gerede vom Tod des Subjekts fällt leicht, weil das Ich der diskreteste und am schwersten zugängliche Bereich der Literatur überhaupt ist. Tatsächlich ist das moderne Ich verschwiegen, duldsam und gutwillig auch dann, wenn andere sein Hinscheiden verkünden oder sich (wenigstens) ein flotteres Ich wünschen. Wenn ich einen neuen Roman anfange, vergleiche ich meine Unsicherheit oft mit der Angst eines Passagiers, der soeben ein Flugzeug betritt. Natürlich rede ich mir ein, dass bisher alles gutgegangen ist und dass es auch diesmal gutgehen wird. Bekanntlich hört niemand zu und schaut niemand hin, wenn die Stewardess den Umgang mit der Schwimmweste erklärt. Immerhin werden die Passagiere in dieser einen Minute mit ihrem möglichen Absturz vertraut gemacht, von dem sie wissen, dass er, wenn er eintritt, für die meisten mit dem Tod endet. Simuliert die Stewardess unser Unglück oder simuliert sie unsere Rettung? Auch der Autor sitzt in einer Art Flugzeug und fürchtet, oft lebenslang, den Absturz und, nach dem Absturz, die eigentliche Katastrophe: die Scham. Bei einer früheren Preisverleihung hörte ich einmal, wie eine Dame zu einer anderen Dame sagte: Der sieht überhaupt nicht aus wie ein Schriftsteller. Irritierend war, dass ich die Meinung der Dame teilte. Noch kurz vor der Übergabe des Preises eilte ich in die Toilette und sah lange in den Spiegel. Ich hatte auch heute nicht den Fieberblick eines Strindberg, ich hatte nicht die Fledermaus-Ohren von Kafka, ich hatte nicht einmal den gewöhnlichen Safari-Look eines Ernest Hemingway.
Dabei braucht die Scham des Schriftstellers solche Einzelheiten nicht. Sie ist ein Brudergefühl des Scheiterns, sie ist immer auf dem Sprung, sie warnt ununterbrochen vor dem Leben, sie empfiehlt, das Leben überhaupt seinzulassen, und wer es trotz ihrer Warnungen dennoch riskiert, wird hinterher von ihr zur Rechenschaft gezogen. Die Scham bestraft den Lebenden, weil er lebt, und sie bestraft den Toten, weil er gelebt hat. Einerseits verlangt sie, endlich ausgesprochen zu werden, andererseits erstickt sie jede Störung ihres Schweigens. Die Paradoxie geht auf ihre unerforschliche Genese zurück; je innerlicher sie ist, desto phantomartiger benimmt sie sich. Jeder Autor ist für sie prädestiniert, weil er die besonderen Fähigkeiten, die andere ihm unentwegt zusprechen, nicht hat. Er muss so tun als ob: und ist deswegen für die Scham ein besonders leichter Fall. Schreiben ist eine Tätigkeit, die durch raschen Fähigkeitsschwund der Verfasser und durch noch raschere Stimmungswechsel oft kippt und dadurch (sagen wir:) merkwürdig wird.
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