Igor der Schreckliche
müssen Mütter ständig schwätzen und ihre Kinder vergleichen? Igors Wutballon im Bauch platzt gleich. „Ich begleite dich nach Hause!“, haucht Victors Mutter.
Igor nickt. „Sehr wohl, Madame Aurelia!“
Lustlos folgt er ihr. Sie nehmen keine Abkürzungen durch verwinkelte Gässchen. Jeder soll sehen, dass Madame Aurelia Igor nach Hause bringt! Sie schreiten die Monströse Allee entlang. Links und rechts thronen immense Gruften, teilweise verschnörkelt, oftmals mit Statuen. Fackeln glühen am Eingang und an der Tür dient ein abstoßender Fratzenknauf als Glocke.
Igor guckt hinauf in das Mondlicht. Wie echtes Sonnenlicht wohl aussieht und sich anfühlen mag? Kann er es eines Tages mit seinen eigenen Augen betrachten? Das wäre schön!
„Nicht wahr, Igor?“ Madame Aurelia bleibt stehen. „Igor!“
Er erschrickt. „Madame?“
Ihre Lippen kräuseln sich. „Ich fragte soeben, ob du meine Ansicht teilst, dass Fürchtlingen die vorzüglichste Gegend Transsilvaniens ist. Sieh! All diese ehrwürdigen antiken Bauten, die höflichen Vampire, die die Etikette noch beherrschen.“ Damit meint sie einen vorübergehenden Mann, der die Hand an den Hals haltend zum Mond blickt und kurz nickt. Das ist ein klassischer Vampirgruß.
„Fürchtlingen ist …“ Beinahe hätte Igor uncool gesagt. „… traditionell.“
Madame Aurelia nickt. „Wie wahr! Und das ist gut!“ Sie grüßt vorbeigehende Damen mit einem eleganten Kopfnicken. Vor einer stattlichen Gruft mit dicken Säulen bleibt Madame stehen. „Wer logiert in dieser Gruft?“
Wer ist das gleich? Igor kennt den Namen! Er will ihm partout nicht einfallen.
Madame Aurelia zieht die Augenbrauen hoch. „Deine arme Mutter!“ Sie schließt kurz die Augen. „Das ist die Gruft der Familie Poeticus! Igor! Das ist eine der einflussreichsten Dichterfamilien unserer Zeit!“
Kopfschüttelnd setzt sie den Weg fort. Bis zur nächsten Gruft. Oje! „Igor!“ Madame Aurelias Stimme klingt entzürnt. „Das ist das Vampirministerium!“ Und so geht es weiter. Welch eine Demütigung! Noch viel ärger ist, dass Madame Aurelia mit ihrer unüberhörbar schallenden Stimme jeden Passanten von Igors Unwissenheit in Kenntnis setzt.
Igor schämt sich zwar, dass er vieles nicht weiß, findet aber das Getue Madame Aurelias maßlos übertrieben. Sie zeigt auf eine Reihe von Statuen. Igor zuckt mit den Schultern. „Du bist eine Schande für deine Familie!“
„Dumme Kuh!“, denkt er. Zu gerne würde er ihr das Hälschen umdrehen, damit ihn ihre scharfen Worte nicht weiter quälen.
Sie bleiben vor einer angesehenen, prominenten Gruft stehen. Jeder kennt sie! Es ist die Gruft von Graf Dracula und seiner Familie. „Ich gehe davon aus, du findest eure Gruft.“ Madame Aurelia geht hinein.
Igor verbeugt sich und schleicht gedemütigt nach Hause. Wie kann man Fürchtlingen mögen? Alles ist trist und finster: der Himmel, die Gruften, die Kleidung, die Gesichter. Und überall hängt dieser muffige Schwefelgeruch.
Kapitel 3
Der Unheimliche Wald
„Mir kannst du es anvertrauen! Mir, deinem dir treuen Freund!“, bittet Victor.
Soll er?
Oder nicht?
„Igor, warum hieltest du dich in der Nefastusgasse auf?“
Igor bewegt den Kopf leicht hin und her. „Du irrst, Victor, ich hielt mich in der Nähe auf. Betreten habe ich sie nicht. Das ist ein Unterschied!“
Victor blickt ihn eindringlich an. „Ich bitte dich!“
Und weil Victor Igors bester Freund ist, erzählt er ihm alles. Dass er in die Menschenwelt wolle, von der Onkel Temerar träumerisch schwärmt, dass er die Menschen kennenlernen wolle samt all ihren Erfindungen und Eigentümlichkeiten. Er will sie ihre Sprache sprechen hören, ihre Musik in seinen Ohren erklingen lassen und in einem menschlichen Bett nächtigen! Igor ist hingerissen und berauscht. Als er bemerkt, dass sein Freund ihn entsetzt anblickt, verstummt er augenblicklich.
„Igor! Überlege gut! Wenn das herauskäme! Oder sie dich auf frischer Tat ergriffen!“
Die beiden betreten das Klassenzimmer. Professor Savant schreibt Sätze an die Tafel, während die Vampirschüler ihre Bücher aufschlagen. Victor verfolgt aufmerksam den Unterricht. Igor guckt aus dem Fenster. Warum versteht Victor ihn nicht?
„Igor! Ich ermahne dich ein letztes Mal!“ Igor hört die Stimme des Professors nicht. „Du lässt mir keine andere Wahl. Ich schicke eine Mahnung an deine Eltern.“
Mahnung? Hat der Professor gerade von einer
Mahnung
gesprochen? „Wer erhält eine
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