Ihr schafft mich
Er hätte also mit Sicherheit ein völlig anderes Leben geführt als das, das er ab seiner frühen Kindheit in Deutschland führte.
Hier in Deutschland wurde er Philipp gerufen und nicht Hùng . Hier lernte er Deutsch, die Sprache seiner Adoptiveltern. Vietnamesisch, die Sprache seiner leiblichen Eltern, von denen er bis heute nichts weiÃ, ist ihm völlig fremd. Er schlug einen Weg ein, der für ein Kind aus einem gebildeten, wohlhabenden deutschen Elternhaus typisch ist: Gymnasium, Universität. Er hatte alle Möglichkeiten, seine politischen Talente zu entwickeln, und war im Alter von etwa 40 Jahren Spitzenpolitiker.
Ob er auch, wenn er in Vietnam geblieben wäre, Medizin studiert hätte oder etwas anderes? Ob er es geschafft hätte, an die Spitze der Gesellschaft aufzusteigen? An die Spitze der Gesellschaft in Vietnam? Man weià es nicht. Es ist eher unwahrscheinlich. Denn er kam ja als Baby nach Deutschland, weil für die Verantwortlichen des Waisenhauses, in dem er lebte, eines klar war: Im fernen Deutschland würde dieses Kind ein besseres Leben haben als dort, wo es geboren wurde. In Vietnam gab es keine Perspektive für diesen Menschen. In Deutschland standen ihm viele Wege offen. Er konnte seinen Weg machen.
Und noch eines ist sicher: Wenn heute Philipp Rösler »ich« sagt, dann spricht da eine ganz andere Person als die, die er geworden wäre, wenn man ihn in Vietnam gelassen hätte. Wenn er dort geblieben wäre, wo er geboren wurde, dann hätte er zwar das gleiche Gesicht. Er hätte wohl auch die gleiche Stimme (mit der er aber in einer anderen Sprache sprechen würde). Er hätte womöglich auch das gleiche ruhige, besonnene Auftreten, für das er in der deutschen Politik bekannt wurde. Aber er wäre trotzdem ein ganz anderer Mensch geworden.
Diesem Menschen sind natürlich nicht nur sein ÃuÃeres, sondern auch Teile seiner Persönlichkeit bei der Geburt mehr oder minder unveränderlich mitgegeben worden. Wissenschaftler sind heute sicher, dass nicht nur die Farbe der Haut, der Augen oder der Haare von Anfang an vorgegeben ist. Auch die Intelligenz ist zu einem beträchtlichen Teil in den Erbanlagen festgeschrieben. Die Frage, zu was für einem Menschen sich jemand entwickelt, wird ebenfalls zu einem beträchtlichen Teil durch die Gene beantwortet. Wie groà dieser in Erbanlagen festgelegte Teil der Persönlichkeit ist, darüber gibt es unter Forschern unterschiedliche Auffassungen. Eines aber ist sicher: Das in Genen festgeschriebene biologische Erbe, das ein Mensch mit sich herumträgt, macht nur zu einem Teil seine Persönlichkeit aus.
Die Frage »Wer werde ich einmal sein?« wird also in einem ganz beträchtlichen Ausmaà nicht dadurch beantwortet, mit welchen genetischen Erbanlagen jemand auf die Welt kommt. Sie ist vielmehr zu einem groÃen Teil auch über die Familie zu klären, in die jemand hineingeboren wird. Ãber die Freunde, die er als Kind, Jugendlicher und Erwachsener hat. Ãber die Leute in dem Stadtviertel oder Dorf, in dem er aufwächst. Ãber die Arbeitskollegen und Chefs, die er hat. Ãber die Religion, der seine Familie möglicherweise anhängt. Und über viele, viele andere Faktoren. Welche Person jemand ist, was für eine Persönlichkeit er hat, hängt ganz wesentlich von seiner Sozialisation ab.
Wachsen heiÃt Hineinwachsen.
Menschen werden vom ersten Augenblick ihres Lebens bis zu ihrem letzten Atemzug von anderen geformt. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Sie werden sozialisiert. Zunächst übernimmt das vor allem die Familie. Mutter, Vater oder auch Geschwister haben an ein Neugeborenes von Anfang an bestimmte Erwartungen , wie es zu sein hat. Ãhnelt das Baby nicht der Mama? Hoffentlich wird es so hübsch wie sie! Ist es so jähzornig wie der Opa? Hoffentlich wird es nicht so aufbrausend wie der! Vom ersten Moment an geben andere dem Säugling vor, in welche Richtung er sich entwickeln soll oder sich besser nicht entwickeln soll. Und das Kind bekommt, ohne darüber nachzudenken, mit, welche Regeln gelten. Sogar dann, wenn sich diese Regeln nicht besonders einfach erklären lassen.
Dutzi, Dutzi â Du? Sie?
Wie Menschen Regeln aufnehmen, ohne dass sie ihnen jemand ausdrücklich beibringt, lässt sich gut beobachten, wenn sich deutschsprachige Kinder daran herantasten, wann man jemanden mit »Sie« anreden
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