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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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dreißig, nach einer langjährigen Berufsausbildung und vielleicht mit eigener Familie, glaubt, fertig entwickelt zu sein, täuscht sich. Stellen wir uns zwei Freunde vor, nennen wir sie Moritz und Max. Sie sind beide 26 Jahre alt, sie haben an der Uni gemeinsam Soziologie studiert, haben vier Jahre zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt. Sie waren mal in die gleiche Mitstudentin verliebt. Die wollte von beiden nichts wissen. Am Ende ihres Studiums sind Moritz und Max fest davon überzeugt, dass sie einen ziemlich ähnlichen Blick auf die Welt haben.
    Moritz verschlägt es nun nach Düsseldorf zu einer Unternehmensberatung. Er geht jeden Tag mit Anzug und Krawatte ins Büro, verbringt den größten Teil seiner Zeit am Computer und in Meetings. Er hantiert schon bald mit millionenschweren Finanzplanungen und entscheidet vom Schreibtisch aus darüber mit, ob Hunderte oder gar Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz behalten oder verlieren. In der Kantine stellt er bald fest, dass er unter den Kollegen fast der Einzige ist, der nicht Jura oder BWL studiert hat, und er auch mit seinen politischen Überzeugungen ziemlich allein dasteht. Aber das macht nichts. Denn ebenso wie die Juristen und BWL er gehört er jetzt ja zu einer neuen Gruppe: den Unternehmensberatern.
    Dementsprechend verhält er sich irgendwann auch in den Kantinengesprächen oder bei den Party-Small-Talks. Dass man selbst bei Partys Krawatte tragen kann oder sogar soll, findet er am Anfang ungewöhnlich. Aber schließlich gewöhnt er sich dran. Genauso wie er sich dran gewöhnt, dass es bei Kongressen nur eine Farbe für den Anzug gibt: Schwarz. Oder Grau, das so dunkel ist, dass es im Congress Center wie Schwarz aussieht. Dass seine Firma den Kunden für eine Arbeitsstunde, die er leistet, 400 Euro in Rechnung stellt, wundert ihn nur am Anfang. Dann gewöhnt er sich dran. Und irgendwann denkt er, dass seine Arbeitszeit auch so viel wert ist.
    Max schlägt einen anderen Weg ein. Er bekommt eine Stelle bei der Sozialverwaltung in Bremen. Er arbeitet in einem Brennpunktviertel mit Jugendlichen, die entweder schon straffällig geworden sind, oder bei denen man befürchtet, dass sie es bald werden. Er hat mit lauter 12-, 13- oder 14-Jährigen zu tun, deren Eltern (und oft auch schon Großeltern) von Stütze leben. Die jungen Leute stellen Max manchmal Fragen, die ihn nachdenklich machen. Etwa die Frage, ob er es nicht versteht, wenn sie mal unbeobachtet etwas klauen. Wenn sie mal etwas Verbotenes tun, um die 400 Euro im Monat aufzubessern, mit denen ihre Mütter über die Runden kommen sollen (die Väter haben sich meistens aus dem Staub gemacht). Dann weiß Max mitunter nicht so recht, was er antworten soll. In der Kantine sitzt Max fast ausschließlich mit anderen gelernten Soziologen und Pädagogen zusammen. Krawatte oder gar einen Anzug trägt außer dem Behördenchef keiner.
    Kann man sich vorstellen, dass Moritz und Max, wenn sie sich zehn Jahre nach dem Ende ihres Studiums wiedertreffen, immer noch den gleichen Blick auf die Welt haben? Eher nicht. Sie sind auch als Erwachsene immer weiter in eine bestimmte Richtung sozialisiert worden. Gesellschaftswissenschaftler sprechen daher von bis zu vier verschiedenen Stufen der Sozialisation: Sie beginnt mit der primären Sozialisation, die meist in der Familie stattfindet. Darauf folgt die sekundäre Sozialisation, etwa in der Schule und durch Freunde. Daran schließt sich die tertiäre Sozialisation an, vor allem im Beruf. Am Ende steht möglicherweise eine quartäre Sozialisation, etwa als Bewohner eines Altenheims. Die Frage »Wer bin ich?« macht also den Weg frei für eine ganze Reihe von Überlegungen. Das Gleiche gilt für die Frage »Wer handelt, wenn ich handle?«

Kapitel Sieben
    Bin ich ich?
    Wie man auf die Idee kommen kann, einen Menschen in viele Teile zu spalten. Warum einer drei ist. Mindestens. Und was der große Philosoph Kant mit Sonnenblumen zu tun hat.
    Wie lautete noch mal der Schlusssatz des letzten Kapitels? »Wer handelt, wenn ich handle?« Ausgesprochen blöde Frage, könnte man da erst mal sagen. Wenn ich handle, handle natürlich ich . Also, was soll die Frage?
    Nun, so einfach ist es nicht mit dem Ich . Schon seit geraumer Zeit unterteilen Psychologen und Soziologen die Persönlichkeit des Menschen in mehrere Teile. Und sie haben gute Gründe dafür. Die

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