Ihr schafft mich
Ãberlegung dahinter ist Folgende: Die meisten Menschen erleben sich zunächst einmal als jemanden, der »ich« sagen kann. Sie erleben sich als bewusst handelnde Person. Diese Wahrnehmung bezeichnete der Psychologe Sigmund Freud vor gut hundert Jahren â durchaus naheliegend â als »Ich«. Daneben beeinflussen aber auch unbewusste Regungen den Menschen. Freud sprach hier vom »Es«.
Der Gründervater der modernen Psychologie hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass es später mal einen überaus erfolgreichen Horror-Roman namens »Es« geben würde und auch einen zugehörigen Gruselfilm. Aber ein Zufall ist es nicht, dass der Thriller-Autor Stephen King sich für diesen Titel entschied. »Es« â das hat etwas Unheimliches, nicht wahr? Unheimlich ist vielen Menschen auch das, was Sigmund Freud als »Es« beschrieb: starke, oftmals sehr starke Kräfte, die vor allem aus dem Bereich der Sexualität kommen. Kräfte, die eben nicht das Gleiche sind wie das »Ich«, das bewusst vor sich hindenkt. Und vor sich hinsteuert.
Aber damit nicht genug. Zur Persönlichkeit jedes Menschen gehört nach Ansicht Freuds noch ein dritter, ausgesprochen wichtiger Teil: die Vorschriften und Normen, die Menschen von Kindesbeinen an in sich aufsaugen. Sie bilden in Freuds Sprache das »Ãber-Ich«. Es flüstert sozusagen jedem laufend ein, was man tun sollte. Auch wenn das eigene Ich (und vor allem das Es !) das vielleicht gerade ganz anders sieht. Das Ãber-Ich sagt: »Sei brav. Sei gut. Oder hab wenigstens ein schlechtes Gewissen, wenn mal wieder das Es dafür gesorgt hat, dass du nicht brav bist.«
Andere Wissenschaftler haben andere Begriffe und Einteilungen gewählt, um zu beschreiben, wie sich die Persönlichkeit der Menschen zusammensetzt. Aber sie sind sich mit Sigmund Freud in einem einig: Die Persönlichkeit eines Menschen ist kein einheitlicher Block. Sie lässt sich in verschiedene Teile und Aspekte untergliedern. Und die Persönlichkeit verändert sich laufend. Wenn Menschen Normen und Regeln in sich aufnehmen, werden sie also zu anderen Menschen. Und diese anderen Menschen nehmen neue Regeln und Normen wieder auf andere Weise auf. Aus dieser Nummer kommt keiner raus.
Die Leiter des Regeln-Verstehens
Werfen wir also einen Blick auf den Anfang der ganzen Sache. Warum befolgen kleine Kinder Verbote (wenn sie sie befolgen)? Ãblicherweise aus Angst vor Strafe. Oder weil sie nicht wollen, dass ihre Eltern sauer auf sie sind. Was aufs Gleiche rauskommt. Denn kleine Kinder empfinden das Sauersein der Eltern als Bestrafung. Stellen wir uns den dreijährigen Simon vor. Er möchte gern mit der gelben Schaufel spielen, die gerade ein anderes Kind in der Hand hält. Er nimmt sie dem Kind weg. Das findet er logisch. Denn er möchte die Schaufel ja haben. Und als er sie dem andern Kind wegnimmt, erreicht er dieses Ziel. Trotzdem gehorcht er seiner Mutter, als sie sagt: »Gib Nadine die Schaufel zurück!« Simon macht das nicht, weil er den Sinn dieser Anweisung versteht. Im Gegenteil. Er findet eigentlich, dass die Schaufel in seiner eigenen Hand prima aufgehoben ist. Wenn er sie trotzdem an Nadine zurückgibt, tut er das, weil er nicht möchte, dass Mami böse wird. Er hat â in der Fachsprache â Angst vor negativen Sanktionen .
Wenn wir uns eine Leiter vorstellen, die den Umgang mit Regeln beschreibt, ist ganz klar: Dieser Dreijährige, der aus purer Angst die schöne Schaufel wieder aus der Hand gibt, steht auf der gedachten Leiter noch ganz unten. In der Sprache der Wissenschaftler befindet er sich auf der präkonventionellen Stufe .
Die meisten Kinder erklimmen glücklicherweise bald schon die konventionelle Stufe . Sie befolgen Regeln nicht nur, weil sie Angst vor Sanktionen haben. Sie folgen Regeln, weil sie gelernt und akzeptiert haben: »Das macht man so.« Die Regeln werden internalisiert, also im Innern eines Menschen verankert. Das gilt auch für Regeln, die zu ganzen Gruppen gehören. Wenn Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track als Pfadfinder gute Taten vollbringen wollen, dann deshalb, weil sie wissen: »Gute Pfadfinder machen das so.«
Aber der Mensch schreitet ja fort in seiner Entwicklung. Viele bleiben zwar auch als Erwachsene da hängen, wo Tick, Trick und Track stehen. Doch mancher kommt über diese Ebene hinaus. Dann erklimmt er als höchste
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