Ihr schafft mich
sollte. Ein Kleinkind, das mit zwei oder drei Jahren sprechen lernt, duzt erst einmal alle und jeden â die Mutter genauso wie die 60-jährige Verkäuferin im Supermarkt. Irgendwann aber hört das Kind auf, alle zu duzen. Und zwar meistens, ohne dass die Mutter ihm sagen muss: »Die Verkäuferin wird aber gesiezt.« Ganz unbewusst filtert das Kind aus dem Verhalten der andern heraus, wer geduzt und wer gesiezt wird. Wenn die Regeln erkannt sind, ist es dann eine Weile erst mal wieder einfach. Das Kind (oder auch der Jugendliche) weiÃ: Erwachsene, die nicht zur Familie oder zum Freundeskreis gehören, siezt man. Gleichaltrige Kinder (oder Jugendliche) hingegen werden geduzt. Ab einem gewissen Alter wird es aber erneut schwierig. So um den 16. Geburtstag herum wird von den Erwachsenen signalisiert: Jetzt kommt das Alter, in dem der junge Mensch ein Recht hat, selbst gesiezt zu werden. Vor den Sommerferien wird die Neuntklässlerin von den Lehrern noch mit »du« angesprochen. Sechs Wochen später, in der zehnten Klasse, mit »Sie«. Doch die 16- oder 17-Jährigen untereinander duzen sich natürlich immer noch. Aber wie ist es, wenn eine 17-Jährige zur Bank geht, um etwas mit ihrem Teenager-Konto zu regeln? Die junge Frau, die ihr gegenübersteht, sieht keinen Tag älter aus als sie selbst, zumindest was das Gesicht angeht. Nur das Kostüm, das sie trägt, lässt sie älter erscheinen. Wahrscheinlich macht sie eine Lehre als Bankkauffrau. Auf einer Party oder am Strand würden sich die zwei ganz klar duzen. Aber über den Banktresen hinweg? Schwierig, schwierig. Glücklicherweise gibt es ja viele Möglichkeiten, sich ums »du« oder »Sie« herumzustehlen.
Jeder beeinflusst also jeden in seinem Verhalten. Wenn dann noch ein mehr oder weniger bewusster Plan dahintersteht, der sich als solcher erkennen lässt, nennt sich das Ganze â auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch â Erziehung . Wobei die Grenzen flieÃend sind. Wenn ein Kind hundertmal oder tausendmal hört: »Beim Essen redet man nicht«, wird es irgendwann die Lektion gelernt haben. Das ist ohne Zweifel Erziehung. Aber auch wenn die Eltern laufend sagen, dass Bücher etwas Feines sind, Literatur das Leben bereichert und man Thomas Mann und William Shakespeare einfach kennen muss , lernt das Kind seine Lektion. Selbst wenn es da nicht um bewusste Erziehung geht.
Ein kleiner dichterischer Beitrag zum Thema »Sozialisation«
Philip Larkin: This Be The Verse (1971) â die erste von drei Strophen â¦
They fuck you up, your mum and dad.
They may not mean to, but they do.
They fill you with the faults they had
And add some extra, just for you.
Von Ma und Paps wirst du versaut.
Auch wenn sieâs nicht so meinen,
bekommst du ihre Fehler eingebaut,
plus Nachschlag, »für den Kleinen«.
Peers machen Leute.
Eltern überschätzen ihren Einfluss allerdings immer mal wieder. Das oben erwähnte Kind wird vielleicht zwar die Namen von Thomas Mann und William Shakespeare behalten. Und es wird lernen, dass man die kennen sollte . Dennoch könnte es sein, dass der Sprössling niemals etwas von Mann oder Shakespeare liest. Unter anderem, weil seine Freundinnen und Freunde das auch nicht tun.
Eines gilt unter Fachleuten inzwischen als Fakt. Für Kinder und Jugendliche ist schon ab einem relativ frühen Alter vor allem eine Sorte von Menschen besonders wichtig, wenn es um die Sozialisation geht: andere Kinder und Jugendliche. Amerikanische und englische Forscher haben den Begriff der Peers geprägt. Das sind Leute, die das gleiche Alter und/oder den gleichen Rang haben wie man selbst. Wenn eine 15-Jährige ihre Hosen oder Ohrringe aussucht, dann wird sie sich weniger daran ausrichten, was ihrer Mutter gefällt. Sie wird im Kopf haben, was andere Mädchen ihres Alters so tragen. Vor allem, was ihre Freundinnen tragen. Sie richtet sich nach ihrer Peer-Group . Das gilt natürlich nicht nur für Kleidung oder Schmuck, sondern auch für alle anderen Bereiche des Lebens. Von der Frage, ob man gegen Nazis demonstrieren sollte, bis zur Frage, wann das richtige Alter ist, um das erste Mal mit jemandem zu schlafen.
Hört das nie auf?
Bei der Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« spielt also vor allem eine Anschlussfrage eine Rolle: »Wer hat mich sozialisiert ?« Und diese Frage stellt sich immer wieder von Neuem. Wer mit Anfang
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