Ihr schafft mich
assimilieren? Dass bald schon der einzige Unterschied zu ihrer Umgebung in ihren Nachnamen besteht â so wie bei den polnischstämmigen Einwanderern früherer Jahrhunderte? Es gibt dabei erst einmal einen Unterschied. Die »Ruhrpolen« waren fast zu hundert Prozent Katholiken. Beim Gang in die Kirche hatten sie also schon mal keine Probleme, sich unter die katholischen Rheinländer zu mischen.
Wenn es darum geht, ob eine Bevölkerungsgruppe sich assimiliert, stellt sich aber auch die Frage: Warum sollten Türken, Bosnier oder Iraker das tun? Sie würden darauf verzichten, sich einer bestimmten Gruppe zuordnen zu können. Doch genau das ist ein Bedürfnis, das tief im Menschen verankert ist.
Welcher Gruppe (oder auch welchen Gruppen, es können ja mehrere sein) sich jemand zuordnet, ist ganz unterschiedlich. Die einen legen vor allem Wert darauf, dass sie Bayern sind und Dialekt sprechen. Die anderen definieren sich darüber, dass sie Fans einer bestimmten FuÃballmannschaft sind. Wieder andere legen Wert darauf, dass sie fromme Christen sind. Und wieder andere definieren sich darüber, dass ihre Familie ihre Wurzeln auÃerhalb Deutschlands hat. Beispielsweise in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung moslemisch ist. Nicht finden wird man wohl jemanden, der über sich selbst sagt: »Ich gehöre nirgends dazu, ich bin nichts weiter als einer von sieben Milliarden Menschen.«
Und selbst wenn jemand â ganz autonom â festlegen wollte, dass er nirgends dazugehört, würde er sich damit in die Tasche lügen. Vom Moment der Geburt an, wenn nicht sogar schon im Mutterleib, wird jeder Einzelne zu dem Menschen geformt, der er am Ende ist. Und dieses Formen übernehmen andere Menschen. Diesem Geformtwerden â der Sozialisation â kann sich niemand entziehen. Auch du nicht, liebe Leserin und lieber Leser. Und die Sozialisation hört nie auf. Die anderen machen dich. Fertig.
Kapitel Sechs
They fuck you up, your mom and dad.
Wie Menschen zu dem werden, was sie sind. Und wie Regeln in unsere Köpfe kommen.
» ICH BIN ICH ! « Mit diesem Satz konnte man vor gut 30 Jahren in einer bayerischen Kleinstadt einen mittelalten Mann immer wieder abends durch die StraÃen ziehen hören. Er sang nicht den gleichnamigen Song von Rosenstolz aus dem Jahr 2006. Der Mann war vielmehr schwer betrunken. Man kann vermuten, dass er auch einen Grund hatte, sich immer wieder zu betrinken: Der auf den ersten Blick ein bisschen lächerliche Satz â »Ich bin ich« â war für ihn unglaublich wichtig. Er hatte auf die Frage » Wer bin ich?« wahrscheinlich keine Antwort. Deswegen hat er sich so lange zugeschüttet, bis alle Zweifel über diese Frage im Alkohol ertränkt waren. Dann konnte er zufrieden grölen: » ICH BIN ICH! «
Wer über die Frage »Wer bin ich eigentlich?« noch nie in finsteres Grübeln gekommen ist, der kann sich glücklich schätzen. Allerdings kann einen dieses Grübeln auch bereichern. Es muss ja nicht unbedingt finsteres Grübeln sein. Es kann auch ein Gedankenspiel sein. Ein lehrreiches.
Unternehmen wir zum Beispiel folgendes Gedankenspiel. Fragen wir uns: »Was wäre aus mir geworden, wenn ich in einer ganz anderen Familie aufgewachsen wäre? In einem ganz anderen Land?« Man kann diese Frage recht gut an einem Mann durch-arbeiten, der im Jahr 2011 deutscher Wirtschaftsminister und Vorsitzender einer deutschen Regierungspartei wurde.
Dieser Mann mit dem Namen Philipp Rösler wurde in Vietnam geboren, als Kind vietnamesischer Eltern. Wer diese Eltern waren, weià er nicht. Er lebte zunächst als Waisenkind in einem Heim. Dort wurde er von einem deutschen Ehepaar adoptiert und kam nach Deutschland. Wie aber hätte sein Leben ausgesehen, wenn das nicht geschehen wäre? Wenn er in Vietnam geblieben und dort aufgewachsen wäre? Wäre er auch dann irgendwann zu einem der wichtigsten Politiker in einem der reichsten und mächtigsten Länder der Welt geworden?
Länder machen Menschen.
Sicher ist: Wenn der Mann, der heute Philipp Rösler heiÃt, in Vietnam geblieben wäre, hätte er einen anderen Vornamen bekommen. Zum Beispiel Hùng , das ist ein gängiger Name dort. Er hätte auÃerdem als Kleinkind Vietnamesisch sprechen gelernt. Er wäre in einem vergleichsweise armen Land mit einem sozialistischen Wirtschafts- und Staatssystem aufgewachsen.
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