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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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Schweiz – wer hier geboren wird, wächst also in einer Wettbewerbsgesellschaft auf. Aber auch in einer Leistungsgesellschaft . Denn wer im Wettbewerb bestehen will, muss Leistung bringen. Das gilt auf allen Ebenen, nicht nur im Wettlauf beim Sportfest. Die deutsche Wirtschaft steht im Wettbewerb mit der Wirtschaft Chinas oder der USA . Deswegen müssen die deutschen Schüler in der Schule brav und fleißig sein. So heißt es. Denn die Chinesen schicken viel mehr Uni-Absolventen und Ingenieure in den weltweiten Wettbewerb, als es die Deutschen tun. 600 000 junge Ingenieure werfen die Chinesen jedes Jahr auf den Weltmarkt der Industrie, warnen die deutschen Wirtschaftsverbände. Sechshunderttausend! Das sind 150 000 mehr, als es in Deutschland überhaupt an Abiturienten gibt! Und von denen entscheidet sich dann nur ein Bruchteil fürs Ingenieurstudium! Die anderen wollen möglicherweise Sprachen studieren. Oder Politik. Oder gar Philosophie. Das kann ja nicht gut gehen.
    Also heißt es: Wehe, wenn die Deutschen nicht ordentlich Leistung bringen! Und zwar jedes Jahr mehr Leistung als im vergangenen. Denn die Wirtschaft muss wachsen . Die Wettbewerbsgesellschaft steht auch im Wettbewerb mit sich selbst. Sie muss heute besser sein als gestern. Und morgen muss sie wieder besser sein, so heißt es. Dahinter steht das Grundgesetz der modernen Wirtschaft. Kapital muss Ertrag abwerfen, Zinsen. Aus 100 Euro müssen nächstes Jahr 103 werden, im Jahr darauf vielleicht 107, noch ein Jahr später 112 oder 115.
    So läuft das heute. Allerdings natürlich nicht, weil es wirklich so laufen muss . Der Mensch muss nicht ständig mehr produzieren, reicher sein, schöner sein. Die Menschen haben sich momentan nur darauf verständigt, dass das ihre oberste Norm ist: Leistung, Wettbewerb. Sie könnten sich auch die Frage stellen, ob diese oberste Norm nicht ziemlicher Mist ist. Zunächst aber bleibt es erst mal dabei. Wir müssen alle fleißig und effizient sein. Wir müssen schöne Zähne haben. Wir müssen sexy sein, mit 16 Jahren genauso wie mit 60 Jahren. Und jeder muss dabei seine Rolle erfüllen im großen Spiel des Lebens.
    Wo man Leistung lernt: die Schule
    Das Leben in der modernen Gesellschaft ist also ein ständiger Wettlauf. Und wie es bei Wettläufen so ist – Nachdenken ist da eigentlich nicht gefragt. Ein Sprinter sollte ja auch nicht herumgrübeln, während er versucht, einen neuen Rekord über 100 Meter aufzustellen. Wenn er dieses Ziel erreichen möchte, ist beim Laufen nur ein Gedanke angesagt: »Ich will! Ich will! Ich will!«
    Ob das Besser-sein-wollen von Natur aus in den Menschen steckt, darüber kann man lange streiten. Es ist wahr, schon viele Dreijährige möchten das größte Feuerwehrauto und beim Topfschlagen die meisten Süßigkeiten. Worüber man aber nicht streiten kann: Wer in unsere Gesellschaft hineingeboren wird, der wird auch von Anfang an auf Leistung getrimmt. Spätestens im dritten oder vierten Schuljahr heißt es: Wir sind ja nicht zum Spaß hier.
    Sobald Kinder in die Schule kommen, beschäftigen sie sich nicht mehr mit den alten Römern, nur weil sie es extrem spannend finden, was die angestellt haben. In der Schule untersuchen Kinder und Jugendliche den Aufbau eines Ahornblattes nicht mehr nur, weil in ihnen von Geburt an kleine Forscher stecken. Als Schulkinder beschäftigen sie sich mit solchen Themen, weil sie am Ende eine Prüfung darüber schreiben müssen. Sie beschäftigen sich nicht mit der Schwerkraft und der Fallgeschwindigkeit, weil sie davon so fasziniert sind wie einst Galileo Galilei. Sondern sie büffeln die entsprechenden Formeln, weil sie sonst in der Physik-Schulaufgabe schlecht abschneiden.
    Natürlich kann man argumentieren, dass Prüfungen und Schulnoten dazu da sind, um herauszufinden, wie gut die Schüler etwas gelernt haben. Und man kann sagen, dass das nötig sei, damit sich die Schüler mehr anstrengen und mehr lernen. Fürs Leben. Aber wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen: Schulnoten haben vor allem zwei Funktionen. Erstens: Sie zwingen die Schüler dazu, sich mit Sachen zu befassen, zu denen man sie anders nicht motivieren kann. Sie zwingen sie, Leistung zu bringen. Zweitens: Mit Noten lässt sich wunderbar eine Auslese betreiben nach dem Motto: »Du, lieber Tobias, darfst später an die Uni und Ingenieur werden –

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