Ihr schafft mich
und du, lieber Turkan, darfst das nicht. Und du, lieber Kevin, darfst das auch nicht.«
Ob Turkan oder Kevin nicht auch das Zeug zu einem guten Ingenieur hätten, interessiert dabei nicht wirklich. Beim groÃen Wettrennen namens »Schule« schmeiÃt es sie irgendwann aus der Bahn, weil bei ihnen zu Hause Türkisch oder RTL 2-Deutsch gesprochen wird und nicht hundert kluge Bücher im Schrank stehen. Und wenn das so ist, dann haut es einen eben oft spätestens dann aus der Kurve, wenn es aufs Gymnasium geht.
Natürlich gibt es auch jede Menge Kinder aus Ausländerfamilien und den sogenannten »bildungsfernen Schichten«, die sich durchs Schulsystem kämpfen. Aber sie müssen eben meistens kämpfen. Denn die Schule ist nicht in erster Linie dazu da, um nachzuschauen: »Was kann der junge Mensch denn besonders gut, wo liegen seine Begabungen?« Schule ist dazu da, jeden und jede auf ein bestimmtes Gleis zu setzen. Und dieses Gleis heiÃt bei Kindern, deren Eltern Abitur und einen Uni-Abschluss haben: Abitur und Uni-Abschluss. Kinder, deren Eltern keine Ausbildung haben und von Hartz IV leben, landen auf einem anderen Gleis.
Die Macht der Gewohnheit
Bemerkenswerterweise wollen viele Schülerinnen und Schüler, kaum dass sie Noten bekommen, gar nicht mehr auf sie verzichten. Sie glauben sehr bald selbst daran, dass Noten gut seien fürs Lernen. Sie freuen sich, wenn sie eine Eins oder eine Zwei bekommen. Wenn es keine Noten mehr gäbe, dann gäbe es auch keine Gelegenheit mehr, sich über gute Noten zu freuen. Es kann jeder ausprobieren: Wenn man hundert Schüler fragt, ob sie die Noten abschaffen möchten, schauen einen viele ganz erschrocken an.
Wenn man hundert Vierjährige im Kindergarten fragt, ob sie für die Lego-Burgen, die sie voller Begeisterung bauen, nicht gern Noten hätten, werden sie erst einmal gar nicht kapieren, was das soll. Aber spätestens wenn es für eine schief gebaute Lego-Burg eine Fünf oder eine Sechs gäbe, wären die Kindergartenkinder entsetzt und würden anfangen zu weinen.
Nun kann man natürlich sagen: »Noten auf Lego-Burgen, das ist ja ein bescheuerter Gedanke.« Aber ist der Gedanke, dass man Noten darauf gibt, wie gut jemand Englisch oder Französisch kann, dann nicht auch bescheuert? Würde die 16-jährige Engländerin, in die sich ein 17-jähriger Deutscher verliebt, ihn darum bitten, dass er besser Englisch lernt, damit er hinterher im Abitur eine bessere Note bekommt? Oder würde sie ihn darum bitten, damit sie ihn besser versteht? Oder könnte es nicht sogar sein, dass sie ihn gar nicht darum bitten müsste, Englisch zu büffeln? Weil der junge Mann ganz von selbst alles tut, damit er flüssiger E-Mails schreiben und mit ihr telefonieren kann?
Auch wenn man sich an den Gedanken vielleicht gewöhnen muss: Noten sind nicht dazu da, dass Schüler mehr lernen. Sie sind dazu da, in unserer Leistungsgesellschaft festzustellen, wer oben und wer unten landen soll. Wer das wirklich anders sieht, sollte mal darüber nachdenken, ob er den Satz »Noten müssen sein« nicht einfach so lange von auÃen eingebimst bekommen hat, dass er jetzt eben selbst dran glaubt. Weil er diese Regel internalisiert hat.
Kapitel Neun
Nur nicht aus der Rolle fallen.
Wie jedes Leben sein Drehbuch bekommt â und wie aus Milliarden Drehbüchern etwas GröÃeres entsteht.
Kommen wir noch einmal zurück zu Philipp Rösler. Es kann sein, dass der Mann, der im Jahr 2009 Minister der deutschen Bundesregierung und im Jahr 2011 Vizekanzler wurde, im Jahr 2021 von der Ãffentlichkeit wieder weitgehend vergessen ist. Aber an ihm lässt sich nicht nur zeigen, wie ein in Vietnam geborenes Kind vietnamesischer Eltern zu einem rundum deutschen Erwachsenen wird. An Rösler lässt sich auch sehr schön studieren, dass es dabei vor allem um eines geht: zu lernen, wie man bestimmte Rollen zu spielen hat.
Philipp Rösler wusste beispielsweise nicht immer, wie man sich als Minister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland benimmt. Als er fünf Jahre oder auch fünfzehn Jahre alt war, dürfte er davon noch keine Ahnung gehabt haben. Als er ausreichend lange in der Politik war, hatte er jedoch irgendwann gelernt, wie man sich in dieser Rolle verhält. Beispielsweise im Gespräch mit Firmenchefs oder Politikern aus anderen Ländern. Zur Rolle des Ministers gehört es,
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