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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Véronique Olmi
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geteilt: hier die Reichen, da die Armen – und sie mittendrin, um die Reichtümer ein wenig umzuverteilen, das war die Ordnung der Welt, und bis zur Pubertät hatte sie diese verquere Ordnung nicht gestört.
     
    Was tat er jetzt, wo er aufgehört hatte zu lachen, dieser Scheißkerl, der sie nie geliebt hatte? Hatte ihn seine Frau im Nebenzimmer lachen gehört? Warum eigentlich im Nebenzimmer? Weil es anders unvorstellbar war? Weil er gesagt hatte, dass sie seit zehn Jahren, seit der Geburt des letzten Kindes, in getrennten Zimmern schliefen? Getrennte Zimmer, aber gemeinsames Haus, was soll das bedeuten? Getrennte Betten, aber die Sachen vermischt in der Küche, im Bad, die Wimperntusche von Madame, das Aftershave von Monsieur, die ganze Hugo-Boss-Palette, die sie ihm vor seiner Reise nach Belgien gekauft hatte, weil er die Rolle eines Arbeiters aus dem Norden spielen würde, sie hatte ein Vermögen ausgegeben, Seife, Duschgel, Shampoo, Aftershave, Parfum, ein Vermögen in der schönen Schatulle, weil sie dachte, dass er nach jedem Drehtag von Kopf bis Fuß schwarz sein würde, das Gesicht voller Kohlenruß wie bei Zola, und er hatte gelacht und gesagt, es sei Stahl, keine Kohle, außerdem sei es ein Film und nicht die Wirklichkeit.

 
     
     
     
    D AS WAR DIE W IRKLICHKEIT : Er hatte gelacht, als sie erzählte, dass Isaac davon gesprochen habe, für sie seine Frau zu verlassen, aber Isaac dachte gar nicht daran, das war eine Phrase, geradezu eine Höflichkeitsfloskel in dieser skrupellosen Welt, auch eine Art, seine Unabhängigkeit zur Schau zu stellen, alles war Leichtigkeit, die Paare bleiben zusammen und gewähren sich jede Freiheit, für sie dagegen waren sie wie aneinandergekettet, da konnten die Männer noch so schön den Jüngling, den Gentleman, den Liebhaber spielen, Nichtaltern spielen, Rendezvous, Trennung, Wiedersehen spielen, Champagner, ein Wochenende im Touquet, ein Zimmer in Venedig schenken, sie waren erstarrt, platzten vor Schiss bei der Vorstellung, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen, nicht mehr unter Verantwortung und Erpressung zusammenzubrechen: die Frau, die nicht arbeitet, die Kinder, die heranwachsen, das abzuzahlende Haus, die Steuern, die Bank, diese ganze kleine Welt, in der sich Geld und Gefühle fröhlich mischten »Ich kann es mir nicht leisten, wegzugehen, mein Schatz, meine Frau verlangt so viel, mein Schatz, ich habe einen Termin bei meinem Steuerberater, sag mir, dass du mich liebst, ich habe so viele Schulden, ich habe Lust auf dich, ich habe immer Lust auf dich, mein Schatz, sie war bei einem Anwalt, der Unterhalt ist mehr, als ich zahlen kann, ich liebe es, deine Zähne zu küssen, doch, doch, ich küsse deine Zähne, weil du immer lächelst, wenn ich dich küsse, mein ältester Sohn ist ganz verstört wegen dieser Geschichten, miserables Zeugnis, Nachhilfestunden, ich kann dir sagen, ein Vermögen, ich … oh … mein Schatz, mein Schatz!«
     
    Und wenn schon, sie würde zur Minibar gehen und trinken, nicht nur, weil sie Durst hatte, sondern auch, weil sie jetzt wollte, dass die Kälte sie packte, sie ohrfeigte, in eine andere Wirklichkeit zurückbrachte, in die dieses Hotels, in dem nicht alle neben ihren ausgeschalteten Handys weinten, manche putzten sich die Zähne, manche sahen fern, machten ihre Abrechnung, liebten sich, hatten Albträume in Farbe, sahen im Traum die Zukunft, jeder ging seinen eigenen kleinen Geschäften nach, und es gab keinen Grund, weshalb sie mehr als die anderen leiden, weshalb sie in Schweigen verfallen sollte.
     
    Das eisige Wasser tat ihren Zähnen weh.
    Zahnweh, Bauchweh. Herzweh.
    Sie konnte auf dem Bett sitzend die Minibar öffnen.
    Kopfweh. Brennende Augen.
    Sie konnte die Vorhänge beiseiteschieben, ohne aufzustehen.
    Draußen die kleinen fahlen Lichter der Auffahrt und am Ende des Wegs plötzlich finstere Nacht, abrupt wie ein Abgrund, wie viele Hirschkühe waren heute gefallen? Drosseln. Fasane. Tauben. Was jagt man in der Sologne? Welche Braten liegen in den Tiefkühltruhen, den Kühlräumen, Stolz der Taxifahrer, die Gewehre im Kofferraum des Mercedes und die Lappen, die Madame ihnen mitgibt, damit der Kofferraum nicht schmutzig wird. »Zieh die Stiefel aus, bevor du reinkommst. André! Mach ein Foto von deinem Vater, komm doch mal her! Ich habe gesagt, du sollst die Stiefel ausziehen!«
     
    Die erste Scham ihrer Kindheit, die erste echte Scham, diffus, langsam, ein Schamgefühl, das in den Augen brennt und den Kopf

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