Ikone der Freiheit - Aung San Suu Kyi
gekrochen, so wie er es vor mehr als 30 Jahren in der Armee gelernt hatte. Das Rohr war fünf Meter lang und führte leicht abwärts. Je näher er der Mündung kam, desto höher stieg das Wasser. Nur wenige Minuten vergingen, dann war er vom kühlen Wasser des Inya Sees umgeben. Ein Platschgeräusch war zu hören, als seine beiden vollgepackten Kunststoffsäcke auf die Wasseroberfläche trafen, ansonsten war es still.
Er begann zu schwimmen, bemerkte aber, dass er noch immer Grund unter den Füßen hatte, und stapfte daher ein paar Schritte weiter. Er fühlte sich durch die unförmigen Schwimmflossen aus harter Pappe behindert, die er vor ein paar Minuten mit Klebeband an seinen Sandalen befestigt hatte.
In diesem Moment entdeckten ihn die beiden Soldaten. Oder vielmehr sahen sie die beiden Kunststoffsäcke, die auf den Wellen schaukelten und seinen Kopf verbargen. Einer der Soldaten hob einen Stein auf und warf ihn in Johns Richtung. Er verfehlte sein Gesicht um wenige Zentimeter. Dann kam noch ein Stein geflogen, und gleich ein weiterer. Sie zielten genau, so als wollten sie die Kunststoffsäcke versenken, schienen aber nicht zu bemerken, dass sich ein westlicher Ausländer mittleren Alters hinter der schwimmenden Zielscheibe versteckte.
Vorsichtig versuchte er, die Säcke im Takt der Wellenbewegungen weiterzuschieben. Plötzlich schienen die Soldaten das Interesse verloren zu haben. Sie wandten sich ab und zogen von dannen. Er war entkommen.
Eine gute Stunde brauchte er bis zum Ziel. Auf dem Weg dorthin wurde das Wasser tiefer, und er musste schwimmen. Als er das Haus mit der weißen, durch Feuchtigkeit beschädigten Fassade sah, wusste er, dass er das Ziel erreicht hatte. Mit den Kunststoffsäcken über den Schultern watete er die letzten Meter an Land. Er war müde und glaubte, furchtbaren Lärm zu verursachen. Aber die Dunkelheit war kompakt, und keiner der Wachleute an der Vorderseite des Hauses konnte ihn sehen. Ein paar Stufen führten zu einer Terrasse hinauf. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte ihn das Hauspersonal abgewiesen. Er hatte nicht hereinkommen und seine wichtige Mitteilung vorbringen dürfen. Es war ihm lediglich gelungen, ein paar Bücher über die Kirche der Mormonen zu überreichen. Manchmal fragte er sich, ob die Dame des Hauses die Botschaft gelesen, sie überhaupt angenommen hatte.
Alles war so, wie er vermutete: Die Terrassentür war unverschlossen. Er öffnete sie langsam und vorsichtig und stand plötzlich mitten im Haus. In der Dunkelheit konnte er zwei Frauen sehen, die ihn anstarrten. Sie wirkten erstaunt, fast ein wenig schockiert.
Es war fünf Uhr früh am 4. Mai 2009, und John Yettaw hatte soeben seinen Traum wahr gemacht. Er hatte das Haus von Aung San Suu Kyi am Inya See in Rangun betreten.
Noch immer ist ungeklärt, was John Yettaw, dieser 53-jährige Mormone aus Missouri, mit seinem Besuch bei einer der bekanntesten und meistrespektierten politischen Gefangenen der Welt auszurichten erhoffte. Als er in dieser Mainacht aus dem Inya See kletterte, hatte Aung San Suu Kyi bereits 14 Jahre unter Hausarrest gestanden und war seit sechs Jahren fast vollständig von der Welt isoliert. Nur wenige Personen hatten Zugang zu ihr; zwei Hausangestellte (die beiden Frauen, denen Yettaw an der Terrassentür begegnete), ihre Ärzte, eine Kontaktperson aus der Demokratiebewegung und – ein paar wenige Male – Vertreter internationaler Organisationen.
Möglicherweise sah sich Yettaw als Held eines Dramas, in dem Aung San Suu Kyi ihre Freiheit wiedererlangen sollte. In den schwarzen Kunststoffsäcken hatte er unter anderem zwei schwarze Schadors mitgebracht – eine muslimische Kopfbedeckung, die den ganzen Körper bis zu den Knien verhüllt. Anscheinend hatte Yettaw geplant, sich selbst und Aung San Suu Kyi zu verkleiden und dann das Haus durch den Haupteingang zu verlassen. Offenbar hatte er nicht darüber nachgedacht, was wohl die Wächter sagen würden, wenn plötzlich zwei muslimische Frauen aus dem Haus der bestbewachten politischen Gefangenen Burmas herauskämen.
Yettaw durfte ein paar Stunden auf dem Fußboden in der Eingangshalle schlafen, wurde jedoch weggebracht, sobald die Abenddämmerung wieder einsetzte. Am Tag danach wurde er vor einem Geschäft im Zentrum Ranguns festgenommen; der Sicherheitsdienst hatte ihn offensichtlich beobachtet und nur auf den richtigen Moment gewartet, um ihn festzusetzen. Kurz danach wurden auch Aung San Suu Kyi und ihre beiden
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