Ilium
Achilles, »zurück nach Phthia. Lieber gehe ich mit einem leeren Schiff unter, das geschlagen heimfährt, als hier zu bleiben und als Missachteter dir Vermögen und Reichtum zu häufen.«
»Meinethalben kannst du von dannen ziehen!«, brüllt Agamemnon. »Oder vielmehr desertieren. Ich mag dich nicht bitten, um meinetwillen zu bleiben und für mich zu kämpfen. Du magst kraftvoll sein, Achilles, aber was heißt das schon? Es ist eine Gabe der Götter und nicht dein Verdienst. Du liebst den Kampf und das Blut, es macht dir Freude, deine Feinde niederzumetzeln, also nimm deine kriecherischen Myrmidonen und zieh heim!«
Achilles vibriert geradezu vor Wut. Man sieht ihm an, dass er hin und her gerissen ist zwischen dem Drang, auf dem Absatz kehrtzumachen, seine Männer zu holen und Ilium ein für alle Mal hinter sich zu lassen, und dem überwältigenden Wunsch, sein Schwert zu ziehen und Agamemnon wie ein Opferlamm auszuweiden.
»Aber höre meine Drohung, Achilles«, fährt Agamemnon fort, und sein Gebrüll sinkt zu einem schrecklichen Flüstern herab, das all die Hunderte hier versammelten Männer hören können, »ob du nun gehst oder bleibst, ich verzichte nur darum auf meine Chryseis, weil der Gott, Apollo, darauf besteht – doch an ihrer statt hole ich mir deine Briseis, damit jeder sieht, wie viel höher ich stehe als du, der kleine Nörgler Achilles!«
J etzt verliert Achilles jegliche Selbstbeherrschung und macht ernsthafte Anstalten, sein Schwert zu ziehen. Und hier hätte die Ilias geendet – mit Agamemnons, Achilles’ oder beider Tod –, die Achäer wären heimgefahren, Hektor hätte seinen Lebensabend genossen und Ilium wäre noch tausend Jahre stehen geblieben und vielleicht genauso prächtig geworden wie Rom, doch in diesem Moment erscheint die Göttin Athene hinter Achilles.
Ich sehe sie. Achilles wirbelt mit verzerrtem Gesicht herum und sieht sie offenbar auch. Niemand sonst kann sie sehen. Ich verstehe nichts von dieser Tarnmantel-Technik, aber sie funktioniert, wenn ich sie benutze, und bei den Göttern funktioniert sie auch.
Nein, unmittelbar darauf wird mir klar, dass dies mehr als ein Tarnmantel ist. Die Götter haben wieder einmal die Zeit angehalten. Auf diese Weise sprechen sie am liebsten mit ihren Favoriten – unter vier Augen –, aber ich habe es nur ein paar Mal miterlebt. Agamemnons Mund steht offen – ich sehe im Flug eingefrorene Spucke –, aber kein Ton kommt heraus, seine Kinnpartie und seine Muskeln sind versteinert, die dunklen Augen blinzeln nicht. Alle im Kreis sind erstarrt, mit faszinierter oder nachdenklicher Miene. Ein Vogel hängt reglos am Himmel. Wellen türmen sich auf, brechen jedoch nicht am Ufer. Die Luft ist dick wie Sirup, und alle Anwesenden sind erstarrt wie Insekten in Bernstein. Die Einzigen, die sich in diesem stillgestellten Universum bewegen, sind Pallas Athene, Achilles und ich – obwohl ich mich nur ein klein wenig vorbeuge, um besser zu hören.
Achilles’ Hand liegt noch am Heft des Schwertes, das er bereits halb aus der wunderschön gearbeiteten Scheide gezogen hat, aber Athene hat ihn an den langen Haaren gepackt und mit körperlicher Gewalt zu sich herumgedreht, und jetzt wagt er es nicht, das Schwert ganz zu ziehen. Damit würde er nämlich die Göttin selbst herausfordern.
Aber seine Augen funkeln vor Zorn – sie sind fast schon ein bisschen wahnsinnig –, und er ruft in die verdickte, sirupartige Stille hinein, die solche Zeitstillstände begleitet: »Warum! Verdammt, verdammt, weshalb jetzt! Weshalb kommst du jetzt zu mir, Göttin, Tochter des Zeus? Bist du gekommen, um mitanzusehen, wie ich von Agamemnon gedemütigt werde?«
»Füge dich!«, gebietet ihm Athene.
Wenn Sie noch nie einen Gott oder eine Göttin gesehen haben, kann ich Ihnen nur sagen, dass sie überlebensgroß sind – buchstäblich, denn Athene misst bestimmt weit über zwei Meter –, außerdem schöner und eindrucksvoller als jeder Sterbliche. Ich nehme an, das ist ein Produkt ihrer Nanotechnik und ihrer DNA-Rekombinationslabors. Athene vereinigt in sich eine weibliche Schönheit, eine göttliche Macht und eine pure Kraft, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte, bevor ich im Schatten des Olymp wieder zum Leben erweckt wurde.
Sie hält Achilles weiterhin an den Haaren gepackt, biegt ihm den Kopf zurück und zwingt ihn, sich von dem erstarrten Agamemnon und seinen Lakaien wegzudrehen.
»Nie und nimmer füge ich mich!«, ruft Achilles. Selbst in
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