Ilium
Schönheit und Kraft ziemlich dumm ist – eine Art Arnold Schwarzenegger, wenn auch tausendmal attraktiver.
Um diesen innersten Kreis herum stehen jene Helden, die in meinem anderen Leben jahrzehntelang Gegenstand meiner Seminare waren. Man erlebt keine Enttäuschung, wenn man sie leibhaftig vor sich sieht. Nahe bei Agamemnon, aber in dem entbrannten Streit offenbar nicht auf seiner Seite ist Odysseus – einen ganzen Kopf kleiner als Agamemnon, aber mit breiterer Brust und breiteren Schultern bewegt er sich unter den griechischen Fürsten wie ein Widder unter Schafen; Intelligenz und Schläue leuchten aus seinen Augen und sind in die Falten seines wettergegerbten Gesichts eingekerbt. Ich habe noch nie mit Odysseus gesprochen, aber ich würde es gern noch tun, bevor dieser Krieg vorüber ist und er zu seinen Reisen aufbricht.
Zur Rechten Agamemnons steht sein jüngerer Bruder Menelaos, Helenas Gemahl. Ich wünschte, ich bekäme jedes Mal einen Dollar, wenn ich einen Achäer mosern höre: Wäre Menelaos ein besserer Liebhaber gewesen – »hätte er einen größeren Schwanz«, wie es Diomedes vor drei Jahren in meiner Hörweite einem Freund gegenüber grob formulierte –, dann wäre Helena nicht mit Paris nach Ilium ausgebüxt, und die Helden der griechischen Inseln hätten die letzten neun Jahre nicht mit dieser verfluchten Belagerung vergeudet. Links neben Agamemnon steht Orestes – nicht Agamemnons zu Hause gebliebener, verzogener Sohn, der den Mord an seinem Vater eines Tages rächen und sich damit sein eigenes Theaterstück verdienen wird, sondern nur ein loyaler Lanzenkämpfer gleichen Namens, den Hektor während der nächsten großen trojanischen Offensive niedermacht.
Hinter König Agamemnon steht Eurybates, Agamemnons Herold – nicht zu verwechseln mit dem Eurybates, der Odysseus’ Herold ist. Neben Eurybates steht Ptolemäus’ Sohn, Eurymedon, ein gut aussehender Junge, Agamemnons Wagenlenker – nicht zu verwechseln mit dem weit weniger gut aussehenden Eurymedon, der Nestors Wagen lenkt. (Manchmal, das gebe ich zu, würde ich all diese glorreichen Patronymika gern gegen ein paar simple Nachnamen austauschen.)
In Agamemnons Hälfte des Kreises stehen heute Abend auch der große und der kleine Ajax, die die Truppen aus Salamis und Lokris anführen. Diese beiden wird man nie verwechseln, außer vom Namen her, weil der große Ajax wie ein weißer Profi-Linebacker und der kleine wie ein Taschendieb aussieht. Euryalos, der zweite stellvertretende Befehlshaber der Kämpfer von Argolis, steht neben seinem Chef, Sthenelos, einem Mann, der so furchtbar lispelt, dass er seinen eigenen Namen nicht aussprechen kann. Agamemnons Freund und Oberbefehlshaber der Kämpfer von Argolis, der freimütige Diomedes, ist ebenfalls zugegen; heute Abend ist er nicht heiter gestimmt, er schaut finster zu Boden, mit verschränkten Armen. Der alte Nestor – »der tönende Redner von Pylos« – steht dicht an der Mittellinie des inneren Kreises und schaut noch unglücklicher drein als Diomedes, während Agamemnon und Achilles sich so richtig in ihre Wut und ihre gegenseitigen Beschimpfungen hineinsteigern.
Wenn sich alles Homers Schilderung entsprechend entwickelt, wird Nestor in ein paar Minuten seine große Rede halten und vergeblich an Agamemnon und den wütenden Achilles appellieren, sich wieder zu vertragen, bevor ihr Zorn den Trojanern in die Hände spielt, und ich gestehe, dass ich Nestors Rede hören möchte, und sei es nur wegen seiner Anspielung auf den alten Krieg gegen die Kentauren. Kentauren haben mich schon immer interessiert, und Homer lässt Nestor in nüchternem Ton von ihnen und dem Krieg gegen sie sprechen; die Kentauren sind eines von nur zwei mythischen Tieren, die in der Ilias erwähnt werden; das andere ist die Chimaira. Ich freue mich schon darauf, ihn von den Kentauren sprechen zu hören, aber vorerst achte ich darauf, dass Nestor mich nicht sieht, denn Bias, dessen Identität ich beim Morphen angenommen habe, ist einer der Untergebenen des alten Mannes, und ich will nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Momentan besteht allerdings kein Anlass zur Sorge – Nestors Aufmerksamkeit richtet sich wie die aller anderen auf den heftigen, speichelsprühenden Wortwechsel zwischen Agamemnon und Achilles.
Nahe bei Nestor und offenbar auf Neutralität bedacht stehen Menesthios (der in ein paar Wochen von Paris getötet werden wird, wenn Homers Darstellung der Realität entspricht), Eumelos (Führer der
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