Ilium
Versammlung drittklassiger Politiker, aber selbst der unbedeutendste dieser Götter ist größer, stärker, schöner und perfekter als jeder menschliche Filmstar, an den ich mich aus meinem anderen Leben erinnere. Gegenüber von Zeus, auf der anderen Seite des Hologramm-Pools, der den Raum nun wie ein langer Graben teilt, sehe ich zunächst Pallas Athene, den Kriegsgott Ares (offensichtlich entlassen aus seinem Genesungstank, der bei meinem Angriff auf den von Aphrodite nicht beschädigt wurde), Zeus’ jüngere Brüder – den Meeresgott Poseidon (der selten auf den Olymp kommt) und Hades, den Herrscher über die Toten. Zeus’ Sohn, Hermes, steht ebenfalls in der Nähe der Vertiefung; der Seelengeleiter und Riesenbezwinger ist so schlank und schön wie die Statuen, die ich von ihm gesehen habe. Ein anderer Sohn von Zeus, Dionysos, der Gott der ekstatischen Erlösung, unterhält sich mit Hera und hat im Gegensatz zu seinem bekannten Image keinen Weinpokal in der Hand. Für einen Gott der ekstatischen Erlösung wirkt Dionysos blass, schwach und mürrisch – wie jemand, der sich einer Abmagerungskur unterzieht und erst in der dritten Woche eines Zwölf-Stufen-Programms befindet. Hinter ihnen steht Nereus, der wahre Meeresgott, der Alte Mann der See. Er sieht älter aus als die Zeit. Zwischen Fingern und Zehen hat er Schwimmhäute, und unter seinen Achselhöhlen sind Kiemen zu sehen.
Die Moiren und Erinnyen sind in großer Zahl hier; sie nehmen – zufällig oder absichtlich – den Platz zwischen den Göttern und den Göttinnen ein. Beide sind in gewissem Sinn Gottheiten, haben jedoch in manchen Dingen Autorität über die anderen Götter. Sie sehen nicht so menschlich aus wie die richtigen Götter und Göttinnen, und ich muss gestehen, ich weiß fast nichts über sie, außer dass sie nicht auf dem Olymp leben, sondern auf einem der drei Vulkane weit im Südosten, in der Nähe des Wohnorts der Musen.
Meine Muse, Melete, ist ebenfalls da. Sie steht bei ihren Schwestern, Mneme und Aoide. Die »moderneren« Musen sind ebenfalls in der Menge – die echte Kalliope, Polyhymnia, Urania, Erato, Klio, Euterpe, Melpomene, Terpsichore und Thalia. Gleich hinter den Musen kommen die wichtigsten Göttinnen. Aphrodite ist nicht darunter – das ist das Erste, was mir auffällt. Wenn sie hier wäre, könnte sie mich ebenso gut sehen wie ich diese Gottheiten. Aber ihre Mutter, Dione, ist anwesend, sie spricht mit Hera und Hermes und schaut sehr ernst drein. In der Nähe dieser Gruppe sind Demeter – die Göttin der Feldfrüchte – und ihre Tochter Persephone, die Gemahlin des Hades. Hinter ihnen sehe ich Pasithea, eine der Chariten oder Grazien. Noch weiter hinten, wie es ihrem geringeren Stand gebührt, sind die Nereiden, nackt bis zur Taille, von liebreizendem und tückischem Aussehen.
Die Meta-Göttin namens Nacht steht allein. Ihr Gewand und ihr Schleier sind von so dunklem Purpur, dass sie fast schwarz sind, und selbst die anderen Götter und Göttinnen machen einen weiten Bogen um sie. Ich weiß nichts über Nacht; Gerüchte besagen, dass sogar Zeus Angst vor ihr hat, und ich habe sie noch nie auf dem Olymp gesehen.
Ich komme mir vor wie ein glotzender Filmfan in der Menschenmenge draußen vor dem Theater bei der Oscar-Verleihung, der die Superstars von den niedrigeren Göttern zu unterscheiden versucht. Drüben in der Nähe der Männer steht beispielsweise Hebe – sie ist die Göttin der Jugend, Tochter von Zeus und Hera, aber nur eine Dienerin der Götter –‚ und dort ist Hephaistos, der große Feuerwerker mit den flammend roten Haaren, und spricht mit seiner Frau, Charis, die nur eine der Grazien ist. Die Hackordnung der Götter und Göttinnen, das merke ich nicht zum ersten Mal, ist eine komplizierte Sache.
Auf einmal fliegt die Göttin Iris, die Botin des Zeus, nach vorn – ja, sie fliegt – und klatscht in die Hände. »Vater will sprechen«, sagt sie. Ihre Stimme ist so klar und lebhaft wie ein Flötensolo.
Sofort verstummen die zahllosen Gespräche, und in dem riesigen, hallenden Saal wird es still.
Zeus erhebt sich. Sein goldener Thron und die goldenen Stufen, die zu ihm emporführen, strahlen einen Glanz aus, der ihn in göttliches Licht taucht.
»Hört mich an, alle Götter und auch ihr Göttinnen alle«, beginnt Zeus. Seine Stimme ist leise, aber so kraftvoll, dass ich ihre Vibration in den hohen Marmorwänden spüre. »Heute hat ein Gott oder eine Göttin versucht, Aphrodite etwas zu Leide zu tun.
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