Ilium
noch verhindern, dass ihm das Kinn herunterklappt.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sage ich. »Weshalb benutzt sie ausgerechnet Hockenberry? Weshalb gibt sie ihm die Macht, unbeaufsichtigt zu qten, und erlaubt ihm, sich unter dem Hades-Helm zu verstecken? Und Sie haben Recht – es ergibt keinen Sinn.«
»Das habe ich nicht gedacht«, sagt Nightenhelser. Ein Meteor zischt über den gestirnten Himmel hinweg. Irgendwo im Wald hinter dem Hügel stößt eine Eule ihre Schreie aus, die fast an das Geräusch einer Hupe erinnern. »Ich habe mich nur gefragt, wie Sie mit Vornamen heißen.«
Jetzt bin ich derjenige, der große Augen macht. »Warum?«
»Weil die Götter die Verwendung von Vornamen missbilligt haben, und weil wir Angst hatten, einander besser kennen zu lernen. Schließlich … verschwanden die Scholiker immer und wurden dann von den Göttern ersetzt«, sagt der korpulente Mann, der selbst im Halbdunkel bärenhaft wirkt. »Deshalb wüsste ich gern Ihren Vornamen.«
»Thomas«, sage ich nach einer Sekunde. »Tom. Und Ihrer?«
»Keith«, sagt der Mann, den ich seit vier Jahren ein wenig kenne. Er steht auf und schaut zum dunklen Wald hinüber. »Also, was nun, Tom?«
Aus diesem schwarzen Wald dringen die Geräusche von Insekten, Fröschen und anderen Nachtgeschöpfen an mein Ohr. Sofern es nicht in Wirklichkeit Indianer sind, die sich an uns heranschleichen.
»Wissen Sie, wie … ich meine, sind Sie früher öfter mal zelten gewesen … ich meine …«
»Sie meinen, ob ich sterbe, wenn Sie mich hier allein zurücklassen?«, fragt Nightenhelser … Keith.
»Ja.«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich. Aber ich vermute, meine Chancen stehen hier weitaus besser als auf der Ebene von Ilium. Zumindest, solange die Muse auf dem Kriegspfad ist …«
Vermutlich ist Keith jetzt ebenfalls auf Indianer fixiert.
»Außerdem habe ich all meine kleinen Scholiker-Hightech-Spielsachen und meine Ausrüstung dabei. Ich kann Feuer machen, mit dem Schwebegeschirr fliegen, wenn es sein muss, nötigenfalls zu einem Indianer morphen und sogar den Waffen-Taser einsetzen. Also sollten wir wohl wieder dorthin qten, wo Sie hin müssen, und tun, was Sie tun müssen«, sagt Nightenhelser. »Sie können mich später über die Einzelheiten unterrichten … falls es ein Später gibt.«
Ich nicke und stehe auf. Es kommt mir seltsam … oder besser: falsch vor, den anderen Scholiker hier allein zu lassen, aber ich sehe nicht, dass ich eine andere Wahl habe.
»Finden Sie den Rückweg?«, fragt er. »Hierher, meine ich. Um mich zu holen.«
»Ich glaube schon.«
»Sie glauben? Sie glauben?« Nightenhelser rauft sich die Haare. »Ich hoffe, Sie waren nicht der Vorsitzende Ihres Fachbereichs, Hockenberry.«
Ich schätze, die Zeit der Vornamen ist vorbei.
Es gibt keinen Ort im Universum, wo ich weniger gern wäre als auf dem Olymp. Als ich dort eintreffe, haben sich die Bewohner dieses Berggipfels in der Großen Halle der Götter versammelt. Ich vergewissere mich, dass die Kapuze des Hades-Helms fest auf meinem Kopf sitzt und dass ich keinen Schatten werfe, und schlüpfe in das riesige, dem Parthenon nachempfundene Gebäude.
In meinen über neun Jahren als Scholiker habe ich noch nie so viele Götter an einem Ort gesehen. Auf einer Seite der langen Hologramm-Vertiefung, hoch oben auf seinem goldenen Thron, sitzt Zeus, größer denn je. Wie bereits erwähnt, sind die Götter normalerweise um die zweieinhalb Meter groß, außer wenn sie die Gestalt von Sterblichen annehmen, und Zeus überragt sie für gewöhnlich um mehr als einen Meter, ein göttlicher Erwachsener gegenüber kosmischen Kindern. Heute jedoch ist Zeus mindestens siebeneinhalb Meter groß; jeder seiner muskulösen Unterarme ist so lang wie mein Körper. Ich frage mich flüchtig, was das für jene Erhaltung von Masse und Energie bedeutet, über die mir der andere Scholiker vor Jahren etwas beizubringen versuchte, aber das ist jetzt unwichtig. Hinten an der Wand zu bleiben, weit weg vom Gewühl der Götter, keine Bewegung zu machen und keinen Laut von mir zu geben, nicht einmal ein Niesen, das mich all diesen feinen Superhelden-Sinnen verraten würde – das ist wichtig.
Ich dachte, ich würde alle Götter und Göttinnen mit Namen kennen, aber hier gibt es Dutzende, die mir völlig fremd sind. Diejenigen, die ich kenne, jene Götter und Göttinnen, die am meisten an den Kämpfen bei Troja beteiligt gewesen sind, heben sich von der Menge ab wie Filmstars in einer
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