Ilium
Reihen weiter. Er fand eine Reihe, die vielleicht nicht ganz so schlammig war wie die anderen, schaute sich um, lehnte die Taschenlampe an einen Maisstängel, sodass der Stahl nach oben gerichtet war – er erinnerte ihn an den blauen Strahl in Jerusalem –, dann ließ er die Hose herunter, hockte sich hin und grub mit den Händen ein flaches Loch. Wie hat Savi das genannt?, dachte er. Camping?
Als er fertig war – eine ungeheure Erleichterung, trotz der barbarischen Umstände –, benutzte er das nasse, durchweichte Papier in seiner Hand, so gut es ging, stellte fest, dass es nicht reichte, warf es in das schlammige Loch und spürte dann die Wölbung in der Tasche seines Kittels. Er zog das zusammengelegte Stück Stoff mit einer Kantenlänge von etwa siebzig Zentimetern heraus, das er immer bei sich trug. Sein Turin-Tuch. Im Licht, das von den von der Taschenlampe beschienenen Maisstängeln über ihm zurückgeworfen wurde, betrachtete er das feine Leinen und die schönen, mit Mikroschaltkreisen bedruckten Stickereien, die das Turin-Drama direkt ins Gehirn übertrugen. Jahrelang war er hin und wieder dem Krieg der Trojaner gegen die Achäer verfallen, aber nachdem er den echten Odysseus kennen gelernt hatte – falls der bärtige alte Mann der echte Odysseus war, was ihm alles andere als wahrscheinlich erschien –, hatte Daeman nicht mehr viel Interesse am Turin-Drama. Odysseus hatte nicht nur mit einem der Mädchen geschlafen, die Daeman hatte verführen wollen – Hannah –, sondern auch noch Daemans primäres gerade verfügbares Zielobjekt, Ada, nach Ardis Hall begleitet. Trotzdem hielt er das schöne Leinentuch in der Hand, als wollte er dessen Gewicht taxieren.
Zum Teufel damit. Daeman benutzte das Tuch – und es bereitete ihm unerwartetes Vergnügen, den arroganten Odysseus quasi stellvertretend so zu behandeln –, warf es ins Loch, schob feuchte Erde darüber, zog sich die Hose hoch und rückte seinen Kittel zurecht. Er versuchte, sich die Hände an den regenglatten Maisstängeln zu säubern, hob dann die Taschenlampe auf und ging die rund zwei Dutzend Reihen zurück.
Aber das Feld nahm kein Ende. Nach etwa fünfunddreißig Reihen war er sicher, dass er in die falsche Richtung gegangen war. Er machte erschrocken kehrt und versuchte, sich zu orientieren – er brauchte nur seinen schlammigen Fußspuren in die entgegengesetzte Richtung zu folgen –, aber die Kehrtwendung hatte ihn eher desorientiert, sodass er nicht erkennen konnte, in welche Richtung er gegangen war. Und die Fußspuren waren nirgends zu finden. Die Blitze waren jetzt greller, und es schüttete wie aus Eimern.
»Hilfe!«, rief Daeman. Er wartete eine Sekunde, hörte keine Antwort und rief erneut. »Hilfe! Ich habe mich hier drin verirrt!« Donner übertönte seine Rufe.
Er drehte sich um, dann noch einmal, beschloss, dass es dort entlang zum Crawler zurück gehen müsse, und begann durch den hohen Mais zu laufen. Er bog Stängel zur Seite, schlug mit der kleinen Taschenlampe auf sie ein. Er vergaß, die Reihen zu zählen, musste jedoch vierzig oder fünfzig nasse Reihen weit gelaufen sein, bevor er wieder stehen blieb.
»Hilfe! Ich bin hier drin!« Diesmal übertönte kein Donner seine Rufe, aber er bekam keine Antwort. Außer dem lauten Prasseln des Regens auf den Maisstängeln und dem Quatschen seiner durchweichten Schuhe war nichts zu hören.
Er ging eine Reihe entlang und hielt zu beiden Seiten Ausschau nach Licht oder einer Bewegung. Er dachte nicht daran, dass er sich auf diese Weise nur noch weiter von den anderen beiden entfernen würde. Nach mehreren Minuten musste er stehen bleiben, um Luft zu holen.
»Hilfe!« Keine drei Kilometer entfernt schlug ein Blitz ein, und der Donner fuhr wie eine Stoßwelle durch den hohen Mais. Daeman blinzelte die Nachbilder des Blitzes weg und bemerkte, dass der Mais weiter vorn und zu seiner Rechten weniger dicht zu sein schien. Er musste am Rand des Feldes sein.
Er lief die letzten fünfzehn, sechzehn Reihen entlang und stürmte ins Freie hinaus.
Es befand sich nicht am Rand des Feldes, wo er es betreten hatte, sondern auf einer etwa sechs Meter breiten und neun Meter tiefen Lichtung. In der Mitte der Lichtung stand ein großes Metallkreuz, das sich etwas mehr als zwei Meter über den Mais erhob. Daeman ließ den Lichtkegel der Taschenlampe vom Fuß des Kreuzes bis zu seinem oberen Ende wandern.
Die Gestalt hing nicht am Kreuz, sondern schmiegte sich eher in das hohle Metall. Ihr
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