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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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nackter Rumpf war in die senkrechte Säule gezwängt, ihre bloßen Arme streckten sich im Querbalken aus. Der Lichtstrahl der Taschenlampe wackelte im strömenden Regen, während Daeman das Geschöpf anstarrte.
    Es war kein Mensch – zumindest hatte es keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Menschen, den Daeman jemals gesehen hatte. Das Menschending war nackt und glatt, schuppig und grünlich – nicht fischgrün, sondern von einem Grün, das in Daemans Vorstellung immer die Farbe von Leichen gewesen war, bevor die Klinik mit solchen Barbareien Schluss gemacht hatte. Die zahlreichen kleinen Schuppen glänzten im Licht. Das Ding war muskulös, aber die Muskeln waren falsch – die Arme zu lang, die Unterarme zu schlaksig, die Handgelenke zu kräftig, die Knöchel viel zu dick, gelbe Klauen statt Fingernägeln, zu starke Schenkel, seltsam nach außen gebogene Füße mit drei Zehen. Es war ein Männchen; der Penis und das Skrotum – grellrosa und unter dem Waschbrettbauch und dem muskulösen Unterleib auf obszöne Weise sichtbar – waren ebenfalls irgendwie falsch, wie bei einer Schildkröte oder einem Hai mit beinahe menschlichen Genitalien, aber der dicke Oberkörper, der schlangenartige Hals und der haarlose Kopf waren die am wenigsten menschlichen Aspekte der Kreatur. Regen rann von den Muskeln, Schuppen und gestreiften Bändern und tropfte auf das grobe schwarze Metall des Kreuzes.
    Die Augen lagen tief in den Höhlen unter Brauen, die affen- und fischartig zugleich waren, und der vorspringende Teil in der Mitte des Gesichts ähnelte eher einer Schnauze oder Kiemen als einer Nase. Unter der Schnauze stand der Mund des Wesens ein Stück weit offen, und Daemans Blick fiel auf die langen, gelben Zähne – nicht menschlich, nicht tierisch, eher fischartig, wenn Fische Ungeheuer wären – und eine viel zu lange bläuliche Zunge, die sich vor Daemans Augen bewegte. Er hob den Taschenlampenstrahl ein kleines Stück höher und hätte beinahe aufgeschrien.
    Die Augen des Menschendings hatten sich geöffnet – längliche gelbe Katzenaugen ohne die gelassene Verbindung einer Katze zum Menschlichen, mit winzigen schwarzen Schlitzen im Zentrum. Das Ding – wie hatte Savi es genannt? Calibani? – bewegte sich in seiner Kreuznische, die geballten Fäuste öffneten sich, Finger streckten sich aus, lange Klauen fingen das Licht, und die Beine und der Rumpf bewegten sich, als würde das Geschöpf laufen und sich strecken.
    Es war nicht gefesselt. Nichts hinderte es daran, im nächsten Augenblick auf Daeman herabzuspringen.
    Daeman wollte weglaufen, merkte jedoch, dass er dem Ding nicht den Rücken zukehren konnte. Es bewegte sich erneut, seine rechte Hand und der größte Teil seines Arms lösten sich aus der Kreuznische. Daeman sah jetzt, dass die mit Schwimmhäuten versehenen Zehen an seinen Füßen ebenfalls gelbe Klauen hatten.
    Hinter Daeman ertönte ein Krachen und Dröhnen – bestimmt weitere Calibani, die sich bereits aus ihren Kreuzen befreit hatten –, und er fuhr herum, um sich ihrem Angriff zu stellen. Er hob die Taschenlampe wie einen Knüppel, und es wurde dunkel um ihn.
    Daeman rutschte aus, oder seine Beine gaben nach, und er fiel in der schlammigen Lichtung auf die Knie. Er hätte am liebsten geweint, glaubte aber nicht, dass er es in den paar Sekunden tat, bevor der Crawler aus dem Mais hervorbrach und wie eine monströse Spinne über Daeman, dem Maisfeld, dem Kreuz und dem reglosen Calibani aufragte. Die acht Scheinwerfer des Crawlers leuchteten auf und blendeten ihn. Er hob den Unterarm vors Gesicht, aber eher um seine Tränen zu verbergen, wie er später erkannte, als um seine Augen vor dem Licht zu schützen.
     
    Die beiden Männer lehnten in den rissigen Ledersitzen, Savi lag auf der Innenkrümmung der Glaskugel. In ihre Thermohäute gekleidet, aßen sie ihre Nahrungsriegel, ließen die Wasserflasche herumgehen und beobachteten eine Weile schweigend das Gewitter. Auf Daemans Bitte hin, sich von dem Feld, dem Kreuz und der Kreatur zu entfernen, hatte Savi noch ein, zwei Kilometer auf der roten Lehmstraße zurückgelegt, bevor sie an den Rand gefahren war und alles außer dem Kraftfeld des Crawlers und den matt erleuchteten virtuellen Schalttafeln abgeschaltet hatte.
    »Was war das für ein Ding?«, fragte Daeman schließlich.
    »Einer der Calibani«, sagte Savi. Sie schien sich tatsächlich wohl zu fühlen, wie sie so auf der Glaswand lag, den Rucksack hinter dem Kopf.
    »Ich weiß, wie du sie genannt

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