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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Atmosphäre ist ganz ähnlich – Weihrauchgeruch in einem höhlenartigen Raum, in dem selbst die Echos gedämpft sind. Doch statt von einem katholischen Altar und Statuen der Jungfrau Maria mit ihrem Kind wird dieser Raum von einer riesigen, zentralen Statue der Athene beherrscht. Sie ist mindestens zehn Meter hoch, aus weißem Stein gehauen, aber grell bemalt – rote Lippen, gerötete Wangen, rosafarbene Haut –, und die grauen Augen der Göttin scheinen aus perlmuttfarbenem Stein zu bestehen. Sie trägt einen kunstvoll gefertigten Schild aus echtem Gold, einen Brustharnisch aus poliertem Kupfer mit goldenen Intarsien, eine Schärpe aus Lapislazuli und stützt sich auf einen zwölf Meter langen Speer aus echter Bronze. Sie ist eindrucksvoll, und ich bleibe an der offenen Tür stehen und schaue in das Heiligtum. Dort, genau dort vor Athenes heiligen, mit Sandalen bewehrten Füßen wird der kleine Ajax Kassandra, die Tochter des Priamos, in die Enge treiben und vergewaltigen.
    Helena kommt zurück, packt mich am Arm und zieht mich grob den Gang entlang. Ich frage mich, ob ich der erste Mann bin, dem es je vergönnt war, einen Blick ins innerste Heiligtum des Athene-Tempels in Ilium zu werfen. Werden die Palladion-Statue und der Tempel selbst nicht von jungen Jungfrauen bewacht? Ich blicke auf, sehe, wie die Priesterin Theano mich anfunkelt, und schließe eilig zu den anderen auf. Theano ist keine Jungfrau – sie ist die Gemahlin des grimmigen Antenor und ein knallhartes Miststück, das man nicht unterschätzen darf.
    Ich folge den Frauen eine im Halbdunkel liegende Treppe hinunter in ein weitläufiges Kellergeschoss, das nur von wenigen Kerzen erhellt wird. Hier schaut Theano sich um, zieht einen Wandbehang beiseite, holt einen seltsam geformten Schlüssel aus einer Tasche ihres Gewands, steckt ihn in eine scheinbar massive Wand, und das Wandstück dreht sich und gibt den Weg zu einer steileren, von Fackeln erleuchteten Treppe frei. Theano scheucht uns alle hindurch.
    Unten, im Kellergeschoss unter dem Kellergeschoss, führt ein Gang zu vier Räumen, und ich werde in den letzten Raum getrieben. Nach Tempelmaßstäben gemessen, ist er klein – gerade sechs mal sechs Meter groß –, und die einzigen Einrichtungsgegenstände sind ein Holztisch in der Mitte, vier kaum glühende Dreifußkessel – einer in jeder Ecke – und eine einzelne Athene-Statue, die primitiver und kleiner ist als alle Skulpturen oben. Diese Athene ist kaum größer als einen Meter.
    »Das ist das echte Palladion, Hock-en-bär-iihh«, flüstert Helena. Sie meint die aus einem Stein gehauene, heilige Skulptur, die eines Tages vom Himmel gefallen ist, zum Zeichen dafür, dass Athene ihre schützende Hand über die Stadt Ilium hält. Wenn das Palladion gestohlen wird, so heißt es in der jahrhundertealten Geschichte, geht Troja unter.
    Theano und Hekabe bringen Helena mit ihren Blicken zum Schweigen. Meine ehemalige Geliebte – nun ja, mein ehemaliger One-Night-Stand – schüttet den Inhalt ihres Säckchens auf den Tisch, und wir setzen uns alle auf die Holzschemel und betrachten den Hades-Helm, das Morpharmband, den Taserstab und das QT-Medaillon. Nur das Medaillon sieht aus, als könnte es etwas wert sein. Dem restlichen Zeugs würde ich wahrscheinlich selbst auf einem Flohmarkt keinen zweiten Blick schenken.
    Hekabe wendet sich an Helena. »Sag diesem … Mann, dass wir feststellen müssen, ob seine Geschichte wahr sein kann. Ob diese seine Spielsachen tatsächlich geheime Kräfte besitzen.« Die Mutter von Hektor und Paris hebt das Morpharmband auf.
    Ich weiß, dass sie es nicht aktivieren kann, aber ich sage trotzdem: »Es hat nur noch für wenige Minuten Energie. Spiel nicht damit herum.«
    Die alte Frau wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Laodike nimmt den Taserstab und dreht ihn in ihren blassen Händen hin und her. »Mit dieser Waffe hast du Patroklos betäubt?«, fragt sie. Es ist das erste Mal, dass sie in meiner Gegenwart spricht.
    »Ja.«
    »Wie funktioniert sie?«
    Ich zeige ihr die drei Stellen, wo ich auf den Stab drücken und wo ich ihn drehen muss, um ihn zu aktivieren. Das Ding ist unter Garantie so konstruiert, dass es nur funktioniert, wenn ich es in der Hand halte. Die Götter wären gewiss nicht so töricht, anderen die Möglichkeit zum Einsatz dieser Waffe zu geben, wenn ich sie verlöre, obgleich der doppelte Druck und die Drehung schon ein gewisser Sicherheitsmechanismus sind. Ich erkläre Laodike und den anderen,

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