Ilium
barbarisch ist wie deiner. Sprich jetzt. Lass nichts aus.«
Ich zögere. Vielleicht wäre es am besten für mich, wenn ich den Mund hielte.
Theano geht neben mir auf ein Knie. Sie ist eine hübsche junge Frau mit hellgrauen Augen, wie ihre Göttin. Die Klinge ihres Dolchs ist kurz, breit, zweischneidig und sehr kalt. Das mit der Kälte weiß ich, weil sie die Klinge gerade unter meine Testikel gelegt und sie damit angehoben hat wie eine Opfergabe auf einem silbernen Serviermesser. Die Spitze des Dolches ritzt mein empfindliches Perineum, und mein ganzer Körper will sich zusammenkrampfen und wegheben. Ich schaffe es nur mit Mühe, nicht laut aufzuschreien.
»Erzähl uns alles und halte dich an die Wahrheit«, sagt Athenes Hohepriesterin leise. »Bei deiner ersten Lüge bekommst du deinen linken Hoden zu essen. Bei deiner zweiten Lüge den rechten. Bei deiner dritten Lüge verfüttere ich den Rest an meine Hunde.«
Na schön, also erzähle ich alles. Wer ich bin. Dass die Götter mich wieder zum Leben erweckt haben, damit ich ihnen als Scholiker diene. Meine Eindrücke vom Olymp. Meine Revolte gegen meine Muse, mein Angriff auf Aphrodite und Ares, mein Plan, Achilles und Hektor dazu zu bringen, sich gegen die Götter zu wenden … alles. Die Spitze ihres Dolchs bewegt sich kein einziges Mal, und das Metall unter mir wird nicht warm.
»Du hast die Gestalt der Göttin Athene angenommen?«, flüstert Theano. »Liegt das in deiner Macht?«
»In der Macht der Werkzeuge, die ich bei mir trage … äh … bisher bei mir trug.« Ich schließe die Augen, beiße die Zähne zusammen und warte auf den Stich, Schnitt, Plumps.
Helena ergreift das Wort. »Erzähl Hekabe, Laodike, Theano und Andromache von deinem Blick in die nahe Zukunft. Von unserem Schicksal.«
»Er ist kein Seher. Die Götter haben ihm keine solche Kraft verliehen«, sagt Hekabe. »Er ist nicht einmal zivilisiert. Hört euch an, wie er spricht. Bar bar bar bar.«
»Er gibt zu, dass er aus weiter Ferne kommt«, erwidert Helena. »Er kann nichts dafür, dass er ein Barbar ist. Aber höre, was er in unserer Zukunft sieht, edle Dymastochter. Erzähl es uns, Hock-en-bär-iihh.«
Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. Theanos Augen haben das durchsichtige Nordseegrau einer religiösen Fanatikerin; es sind die Augen eines SS-Mannes. Hekabes Augen sind dunkel und wirken nicht so intelligent wie die von Helena. Laodikes Blick ist verhangen, der von Andromache strahlend, wild und gefährlich stark.
»Was wollt ihr wissen?« Was immer ich sage, es wird das Schicksal dieser Frauen, ihrer Männer, ihrer Stadt und ihrer Kinder betreffen.
»Alles, was wahr ist. Alles, was du zu wissen glaubst«, sagt Helena.
Ich zögere nur eine Sekunde und bemühe mich, Theanos feministischer Klinge an meinen unteren Regionen keine Beachtung zu schenken.
»Dies ist keine Vision von der Zukunft«, beginne ich, »sondern vielmehr meine Erinnerung an eine Geschichte über eure Zukunft, die meine Vergangenheit ist.«
Im Bewusstsein, dass keine von ihnen etwas mit dem anfangen kann, was ich gerade gesagt habe, sofern es angesichts meines barbarischen Akzents – Akzents? Ich glaube nicht, dass ich dieses Griechisch mit einem Akzent spreche – überhaupt verständlich war, erzähle ich ihnen von den kommenden Tagen und Monaten.
Ich erzähle ihnen, dass Ilium untergehen wird, dass Blut in den Straßen fließen wird und all ihre Häuser in Brand gesteckt werden. Ich erzähle Hekabe, dass ihr Gemahl, Priamos, in ihrem privaten Tempel am Fuß von Zeus’ Statue ermordet werden wird. Ich erzähle Andromache, dass ihr Gatte, Hektor, von Achilles erstochen werden wird, als keiner in der Stadt den Mut hat, hinauszugehen und an der Seite ihres Geliebten zu kämpfen, und dass Achilles Hektors Leichnam hinter seinem Streitwagen durch die Stadt und dann zurück zum Lager der Achäer schleifen wird, wo die Soldaten auf ihn urinieren und die griechischen Hunde ihn zerfleischen werden. Dann erzähle ich ihr, dass ihr Sohn, Skamandrios, schon in ein paar Wochen vom höchsten Punkt der Stadtmauer geworfen werden wird, sodass sein Gehirn über die Steine unten spritzt. Ich erzähle Andromache, dass ihr Leid damit noch nicht zu Ende ist, weil sie dazu verdammt sein wird, zu den griechischen Inseln verschleppt zu werden und als Sklavin zu leben, dass sie ihre Tage damit beschließen wird, den Männern, die Hektor und ihren Sohn getötet und ihre Stadt niedergebrannt haben, das Essen
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