Illuminati
verhüten! Stellen Sie sich die Schande für die Kirche vor!«
Mortatis Stimme bebte. »Das Kind ist bereits an die Öffentlichkeit getreten.«
Alles hielt den Atem an.
»Carlo?« Mortati brach endgültig zusammen. »Das Kind Seiner Heiligkeit… sind Sie.«
In diesem Augenblick spürte der Camerlengo, wie das Feuer des Glaubens in seiner Brust zu verlöschen drohte. Zitternd stand er vor dem Altar, eingerahmt von Michelangelos gewaltigem Jüngstem Gericht. Er hatte einen Blick in die Hölle geworfen. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch seine Lippen bebten nur wortlos.
»Verstehen Sie nicht?«, flüsterte Mortati. »Deshalb ist Seine Heiligkeit zu Ihnen nach Palermo ins Krankenhaus gekommen, als Sie noch ein Kind waren. Deshalb hat er Sie zu sich genommen und aufgezogen. Die Nonne, die er liebte, war Maria… Ihre Mutter. Sie verließ das Kloster, um Sie aufzuziehen, Carlo, doch sie vergaß niemals ihre Hingabe an Gott. Als der Papst erfuhr, dass sie bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war und dass Sie, sein Sohn, wie durch ein Wunder überlebt hatten, schwor er zu Gott, Sie nie wieder allein zu lassen. Ihre Eltern, Carlo, waren keusch. Sie hielten ihre Schwüre gegenüber Gott und fanden trotzdem einen Weg, um Sie zur Welt zu bringen. Sie waren ihr persönliches Wunder, Carlo.«
Der Camerlengo hielt sich die Ohren zu; er wollte es nicht hören. Wie betäubt stand er vor dem Altar. Die Welt schien unter seinen Füßen zu schwanken. Er fiel auf die Knie und stieß einen langen, gequälten Schrei aus.
Sekunden. Minuten. Stunden.
Die Zeit schien jegliche Bedeutung verloren zu haben innerhalb der vier Wände der Kapelle. Vittoria spürte, wie sie sich langsam aus der Betäubung löste, die alle anderen ringsum ergriffen hatte. Sie ließ Langdons Hand los und bewegte sich durch die Schar von Kardinalen. Die Tür der Sixtinischen Kapelle schien meilenweit entfernt, und sie fühlte sich, als bewege sie sich unter Wasser, wie in Zeitlupe…
Ihre Bewegung zwischen den Geistlichen hindurch schien auch andere aus ihrer Trance zu reißen. Einige Kardinale begannen zu beten. Andere weinten. Wieder andere wandten sich zu ihr um und schauten ihr hinterher, und auf ihren leeren Gesichtern zeigte sich zögernd eine dunkle Vorahnung. Vittoria hatte die Menge fast durchquert, als sich eine Hand auf ihren Arm legte. Die Berührung war schwach, doch entschlossen. Sie wandte sich um und erblickte einen greisen Kardinal. Sein Gesicht war umwölkt von Furcht.
»Nein!«, flüsterte der Mann. »Das dürfen Sie nicht.«
Vittoria starrte ihn ungläubig an.
Ein weiterer Kardinal war plötzlich neben ihr. »Wir müssen nachdenken, bevor wir handeln.«
Ein Dritter. »Der Schmerz könnte schlimmer…«
Vittoria war umzingelt. Sie blickte die Kardinale sprachlos an. »Aber… diese Verbrechen, heute Nacht, hier… die Welt hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
»Mein Herz stimmt Ihnen zu«, sagte der greise Kardinal, ohne ihren Arm loszulassen. »Und doch ist es ein Weg, von dem es kein Zurück gibt. Wir müssen an die zerstörten Hoffnungen denken. Den Zynismus. Die Menschen würden der Kirche nie wieder vertrauen.«
Plötzlich schienen noch mehr Kardinale Vittoria den Weg zu versperren. Eine Wand aus schwarzen Roben baute sich vor ihr auf. »Hören Sie die Menschen draußen auf dem Platz?«, sagte einer. »Was wird diese Nachricht in ihren Herzen anrichten? Wir müssen mit Vernunft zu Werke gehen.«
»Wir brauchen Zeit, um nachzudenken und zu beten«, sagte ein anderer. »Wir müssen vorausschauend handeln. Die Auswirkungen dieser…«
»Er hat meinen Vater ermordet!«, sagte Vittoria. »Er hat seinen eigenen Vater ermordet!«
»Ich bin sicher, er wird für seine Sünden bezahlen«, sagte der Kardinal, der ihren Arm hielt.
Was das betraf, war Vittoria ebenfalls sicher, doch sie wollte persönlich dafür Sorge tragen. Sie bewegte sich wieder in Richtung Tür, doch die Kardinale drängten sich dichter zusammen. Angst lag auf ihren Gesichtern.
»Was wollen Sie tun?«, rief Vittoria ihnen zu. »Wollen Sie mich umbringen’?«
Die Kardinale erbleichten, und Vittoria bedauerte ihre Worte augenblicklich. Sie konnte spüren, dass diese alten Männer sanfte Seelen waren. Sie hatten in dieser Nacht genug Gewalt gesehen. Diese Männer wollten nichts Böses. Sie waren bloß gefangen. Verängstigt. Versuchten zu retten, was zu retten war.
»Ich möchte…«, sagte der greise Kardinal, »… ich möchte doch nur
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