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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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es sich so auf den Punkt bringen: Zia Agnese war das genaue Gegenteil von Zio Mauro. Er begriff gar nichts und glaubte alles zu verstehen. Sie hingegen hatte ein paar wichtige Dinge durchschaut, wunderte sich, dass ausgerechnet ihr das passiert war, und achtete tunlichst darauf, es für sich zu behalten.
    *
    Wie gesagt lag die Villa Angelina unweit der Foresta Mercadante zwischen Cassano und Altamura, an der Grenze zum unwirtlichsten Teil der Murgia.
    Man musste sich nur wenige Kilometer entfernen, schon stand man inmitten einer braunen, wüsten, von weißem, spitzem Felsengeröll übersäten Hügellandschaft voller jäher Klüfte, Grotten, versprengter Bäume, weiter Perspektiven und unterirdischer Wasserläufe, versteckt und bedrohlich wie manche Wahrheit.
    An einigen, von undurchdringlicher Stille und herben Düften angefüllten Sommertagen durchschießt einen an bestimmten Stellen der Murgia der irrwitzig einleuchtende Gedanke, man könnte sich hier verlieren. Nicht nur physisch, auch wenn das in dieser ewig gleichen Landschaft, die sich nach jedem Hügel auftut, durchaus möglich wäre. Man erahnt das Geheimnis dieses Ortes, aber es entgleitet einem immer wieder, und man könnte darüber den Verstand verlieren, das Gefühl für die Dinge und ihre Zusammenhänge.
    Man hört ein Geräusch. Vielleicht ein trockenes Knacken, für dessen Ursache es eine völlig logische Erklärung gibt. Dennoch weiß man nicht, woher das Geräusch stammt, der Ursprung lässt sich nicht ausmachen.
    Die Murgia ist der geometrische Ort der Unergründlichkeit.
    *
    Es gab da einen Bauern, der sich bei der Villa meines Onkels um den Garten kümmerte. Er war schon recht alt, eher siebzig als sechzig, klein, äußerst drahtig und muskulös, mit weißem, dichtem, stoppelkurzem Haar, das in geradezu blendendem Gegensatz zu seinem lederfarbenen Gesicht stand, und strahlend blauen, ein wenig blutunterlaufenen Augen. Er hieß Benito.
    Er war schweigsam. Wenn er den Mund aufmachte, war das ein Ereignis. Auch war nicht immer klar, was er mit den wenigen Worten, die er herausbrachte, sagen wollte. Man wusste nicht, ob er mit einem sprach oder in ein Selbstgespräch vertieft war, das man zufällig mitbekam.
    Manchmal sah ich ihm zu, wie er den Boden hackte. Seine perfekt dosierten Bewegungen, mit denen er das Werkzeug hob und senkte, faszinierten mich ebenso wie seine sehnigen Muskeln, die sich spannten, als wären sie aus einem geheimnisvollen, unverwüstlichen Material.
    Wenn ich ihn in der Villa oder auf der Straße traf, grüßte er mich, indem er die offene Hand mit einer knappen, gemessenen Bewegung auf Schulterhöhe hob. Ich hatte mir angewöhnt ebenso zu grüßen, wortlos.
    Obwohl es keinen konkreten Grund dafür gab, war ich überzeugt, dass er mich mochte.
    Die ersten Tage verbrachte ich allein, erkundete mit einem alten Fahrrad, das extra für mich überholt worden war, die Gegend, versuchte in den drei Quadratmetern des sogenannten Pools zu schwimmen und zog mir einen alten Krimi nach dem anderen rein, von denen das Haus voll war.
    Auf meinen Fahrradausflügen suchte ich nach Gesellschaft. Nach ein paar Tagen wurde ich fündig, nur ein paar Dutzend Meter vom Haus entfernt. Die Villa Angelina lag in einer kleinen Wohnsiedlung – nicht mehr als eine breite, baumbestandene, von Häusern gesäumte Straße –, die den hochtrabenden Namen Borgo dei Pioppi trug. Die Bewohner waren hauptsächlich ältere Leute – Altersgenossen von Don Nino und Donna Angelina – oder junge Paare mit kleinen Kindern, die zweite Generation.
    Die Ausnahme bildeten zwei Häuser am Ende der Allee, in denen vier Kinder mit ihren Familien wohnten. Maurizio, Cristina, Filippo und Marino. Sie waren alle jünger und noch größere Versager als ich. In der Stadt, im wirklichen Leben, hätte ich diese Kinder nicht mit dem Hintern angeguckt. Versager – ich war zweifellos einer – sind mit ihren Artgenossen recht rassistisch.
    Doch die Einsamkeit zwang mich zur Nachsicht. Vor mir erstreckte sich der ewig lange Sommer, irgendwie mussten die endlosen Tage totgeschlagen werden, und so fand ich mich mit diesen Knirpsen ab. Schon bald wurde mir klar, dass die Sache ein paar unvermutete Vorteile hatte.
    Ich war stärker als sie, schneller als sie, spielte sogar besser Fußball als sie. Noch nie hatte ich mich in einer Gruppe körperlich hervorgetan. Und so wurde ich unvermeidlich zu ihrem Anführer. Zwischen Tischtennisturnieren, Radrennen über die Waldwege und endlosen

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