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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ihres mathematischen Hirns vielleicht ansatzweise etwas wahrgenommen hatte, versuchte mich in die Arme zu nehmen. Ich wich ihrer Umarmung aus und rannte wortlos in mein Zimmer. Ich wollte nicht, dass sie mich weinen sahen. Keiner von beiden. Nicht bei dem, was sie mir antaten. Ich hasste sie, und daran sollte sich lange Zeit nichts ändern.
    An die darauffolgenden zwei Monate habe ich keine genaue Erinnerung, abgesehen von dem beklemmenden Eindruck einer aufreibenden, tagtäglichen Tragödie, in der die Dinge beileibe nicht so glatt liefen, wie meine Eltern es bei ihrer Bekanntgabe vorausgesagt hatten. Kurz: Sie konnten sich auf nichts einigen, am Ende des Schuljahres lag alles noch im Argen, und die Spannung wurde unerträglich.
    Mit seiner angeborenen Lässigkeit machte sich mein Bruder die Situation zunutze: Er konnte eine Geldsumme herausschlagen, die er unter normalen Umständen niemals bekommen hätte, kaufte sich ein Interrail-Ticket und ging mit einem Freund auf Europatour. Ich sollte ihn erst drei Monate später wiedersehen. Damals hatte ich den Verdacht und heute bin ich mir sicher, dass diese Reise hauptsächlich der Vervollständigung seiner Kenntnisse in puncto Rauschmittel und freizügiger Mädchen diente.
    Ich stellte ein ernstes Problem dar. Von uns beiden Brüdern hatte ich eindeutig den Kürzeren gezogen, und außerdem war ich noch nicht einmal fünfzehn. Ich konnte nicht allein auf Europareise geschickt werden, aber ebenso wenig konnte ich die Sommerferien eingepfercht in diesem Haus verbringen und riskieren, im Gefecht um offene Rechnungen von einer verirrten Kugel – oder auch nur von einem Buch – getroffen zu werden.
    Also setzte mich mein Vater irgendwann Ende Juni – ich weiß noch nicht einmal mehr, wie und wann sie mich in ihre Entscheidung einweihten – mit einem riesenhaften Koffer in sein Auto und brachte mich in eine Villa unweit der Foresta Mercadante, in der die Familie seines Bruders die Sommerferien verbrachte.
    Während eines der seltenen Besuche bei unserem Onkel in den Jahren zuvor hatte ich nämlich den Fehler gemacht zu sagen, ich fände es schön dort.
    Es gab eine Tischtennisplatte – der einzige Sport, in dem ich aus unerfindlichen Gründen gut war und meinen Bruder schlug –, es gab einen kleinen Swimmingpool, und nur wenige hundert Meter entfernt war ein Wald, in dem man mit ein bisschen Glück und Geduld Wildschweine, Rehe und große Raubvögel sehen konnte. Ein fast perfekter Ort zum Wandern.
    Meine Mutter und mein Vater glaubten, wenn es mir dort einen Tag gefiele, würde ich auch gern den ganzen Sommer bleiben, daher hielten sie es für die ideale Lösung, um mich loszuwerden und ihre Angelegenheiten gütlich, wie sie es nannten, zu regeln. Natürlich war ich nicht einverstanden und versuchte dagegenzuhalten, ich würde mich zu Tode langweilen; schließlich hatte ich keine Freunde dort und meine Cousinen waren zwei kleine, achtjährige Zwillingsmädchen, die nichts anderes im Kopf hatten, als Barbies zu horten.
    Es half nichts. Während der kurzen Autofahrt von Bari zur Foresta Mercadante versuchte mich mein Vater zu überzeugen, dass ich ganz viel Spaß haben würde.
    »Mit wem? Mit den Zwillingen? Soll ich etwa mit denen und ihren Barbies spielen?«
    »Aber nicht doch, du wirst schon sehen. Da gibt’s den Swimmingpool, die Tischtennisplatte …«
    »Und mit wem soll ich Tischtennis spielen?«
    Wie immer bei berechtigten Einwänden oder schlagenden Argumenten, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückbrachten, wurde mein Vater vage und die Unterhaltung erstarb. Nebenbei gesagt: Ich bin mir fast sicher, dass diese unerträgliche Eigenart – zusammen mit der Gewohnheit, mit seinen Examenskandidatinnen anzubandeln – entscheidend zum Unmut meiner Mutter und dem Ende der Ehe beigetragen hat.
    Als wir bei der Villa Angelina ankamen – sie war nach der Schwiegermutter meines Onkels benannt –, wartete bereits die ganze Familie auf uns. Zio Mauro, Zia Agnese, die Zwillinge und sechs oder sieben Barbies. Mein Vater lud den Koffer aus, ließ sich nicht dazu überreden, auf einen Kaffee oder einen Amarena hereinzukommen (in der Villa Angelina gab es stets nur die Wahl zwischen Kaffee und Amarena), sagte, er müsse sofort wieder los, er hätte diesen Morgen sehr viel in der Uni zu tun, also ciao danke Agnese danke mein Bruder ciao Kinder ich weiß einfach nie wer von euch beiden Rita und wer Marcella ist komm her Enrico gib Papa einen Kuss bis ganz bald ciao danke

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