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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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sich die Hose auf, und ich war mir sicher, dass auf jeden Fall Urin fließen würde, auf die eine oder andere Art, denn ich machte mir fast in die Hosen, und das nicht im bildlichen Sinn.
    »Wieso?«, war alles, was ich mit flehender Stimme herausbrachte, während ich wie gebannt auf die Hand des Typen starrte, der sich an den metallenen Jeansknöpfen zu schaffen machte und offenbar drauf und dran war, seine Drohung wahr zu machen.
    Ich war so auf diese Hand konzentriert, dass die Stimme mir aus dem Nichts zu kommen schien.
    »Was macht ihr da?«
    Plötzlich war die Welt um mich herum wieder da. Benito kam aus der entgegengesetzten Richtung aus dem Wald. Mit seinem typisch elastischen Gang, der dem eines Sportlers ähnelte, kam er auf einem schmalen Pfad daher, doch sein rechter Arm hing seltsam steif herab, als wäre er bandagiert oder gar eingegipst.
    Es war das erste Mal, dass ich ihn vier Worte hintereinander sagen hörte.
    Jetzt schaltete auch Mario sich ein und legte sogleich ungeheuren Charme an den Tag.
    »Was mischst du dich ein, Sklave? Schnapp dir deine Hacke und geh uns nicht auf die Eier.«
    Er stieg von seinem Roller, bockte ihn auf und schlenderte angriffslustig auf den alten Benito zu. Sie sahen aus wie David und Goliath. Mario war groß, kräftig, haarig, verschwitzt; Benito klein, sehnig, dürr wie die Murgia. Man konnte meinen, sie gehörten nicht zur gleichen Spezies. Da waren mindestens zwanzig Kilo, zwanzig Zentimeter und fünfzig Jahre Unterschied.
    Verzweifelt blickte ich mich nach einer Waffe um. Ein ordentlicher Stein oder Knüppel, mit dem ich Benito helfen könnte.
    »Hast du verstanden, Alter, du sollst Leine ziehen! Muss ich dir auch noch die Fresse polieren?«
    Ich weiß nicht mehr, ob er den Satz zu Ende brachte.
    Sicher ist, was er sagen wollte.
    Und sicher ist, dass Benitos rechter Arm in geometrischer Perfektion hochschnellte. Es sah aus, als schösse etwas aus seinem Hemdsärmel, eine Art brauner Blitz. Einen Sekundenbruchteil später krümmte sich Mario zusammen und rang verzweifelt nach Luft.
    »Geht nach Hause«, sagte Benito gelassen, nachdem er den braunen Blitz mit einer ebenso flinken Bewegung wieder hinter seinem Arm hatte verschwinden lassen.
    Mühsam schleppte sich Mario zu seinem Moped. Die anderen glotzten einander sprachlos an und starteten die Motoren. Dann machten sich die drei langsam davon, ganz anders, als sie gekommen waren.
    Als sie weg waren, lockerte Benito seinen Arm, und endlich konnten wir sehen, was sich dahinter verbarg. Es war ein dunkler, vielleicht sechzig Zentimeter langer Stock, nicht viel dicker als ein Wanderstab.
    »Mieses Dreckspack. Und ihre Eltern sind noch mieseres Dreckspack als sie«, sagte Benito plötzlich redselig, während er den Stock in den Gürtel steckte. Doch eigentlich redete er nicht mit uns. Er sprach eine Wahrheit aus, und es war völlig unerheblich, ob jemand sie hörte oder nicht. Dann ging er zu meinem Rad, hob es auf und prüfte, ob es heil geblieben war.
    Ich sagte nichts. Er drehte sich zu mir um und schaute mich an. Ich erwiderte seinen Blick, sah auf seinen Stock und dann wieder auf ihn.
    Für zwei Menschen, die sich wortlos gegenüberstehen, dauerte es eine Ewigkeit.
    »Komm morgen Abend um sieben zum Hof«, sagte er endlich mit einem Seufzer, als hätte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Dann wandte er sich um und verschwand im Wald.
    *
    »Was willst du denn auf Benitos Hof?«, fragte Zio Mauro zerstreut hinter der Gazzetta del Mezzogiorno hervor.
    Ich hatte keine Ahnung, wieso ich dorthin sollte. Benito hatte es mir nicht gesagt. Ich wusste nur, dass es etwas mit dem zu tun hatte, was auf der Lichtung geschehen war. Doch eine derartige Erklärung hätte Zio Mauro nicht akzeptiert. Also log ich.
    »Ich will mir die Tiere ansehen.« Weil ich nicht wusste, welche Tiere es dort gab, und eine Auseinandersetzung vermeiden wollte, blieb ich vage. Ich wollte nur, dass sie mir den Weg erklärten, ohne zu viele Fragen zu stellen.
    »Die Tiere. Was ist schon an Hühnern und Schweinen dran. Verstehe ich nicht.«
    »Aber ich glaube, er hat auch Welpen. Vielleicht will Enrico die Welpen sehen«, sagte Zia Agnese.
    Danke. Ich liebte ihre Fähigkeit, sich im richtigen Moment mit einem schlichten und plausiblen Kommentar einzuschalten. Genau. Ich wollte die Welpen sehen. Könnten sie mir also bitte erklären, wie ich zu diesem Hof kam?
    Erst ging es fünf Kilometer die Landstraße Richtung Altamura entlang, dann bog man in

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