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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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noch mal Agnese auch von Gabriella wir wissen das sehr zu schätzen.
    »Also, Enrico, benimm dich gut. Bis ganz bald«, sagte er noch im Davonfahren und winkte mit einer mir unerträglichen frivolen Geste aus dem Autofenster.
    In der ganzen Zeit, die ich dort verbrachte, haben mich mein Vater und meine Mutter jeweils nur ein einziges Mal besucht, und das sehr flüchtig.
    *
    Mit mir waren wir in der Villa zu fünft. Doch zwei- oder dreimal die Woche kamen auch Zia Agneses Eltern aus Altamura und nahmen das langjährige Feriendomizil der Familie, das bei der Aufteilung des Besitzes, die man zur Vermeidung von Erbstreitigkeiten frühzeitig vorgenommen hatte, an Zia Agnese gegangen war, wieder in Beschlag.
    Die Schwiegereltern meines Onkels waren so liebenswert wie ein Tritt vors Schienbein.
    Unsere Unterhaltungen beschränkten sich im Wesentlichen auf zwei Themen, auf denen mit quälender Beharrlichkeit herumgeritten wurde. Der Alte wollte, dass ich Notar würde, wenn ich groß sei, und die Alte wollte, dass ich ab sofort Fleisch esse – viel Fleisch.
    »Wenn du mit der Schule fertig bist, musst du Jura studieren und dich um ein Notariat bewerben. Dann hast du für immer ausgesorgt, du verdienst einen Haufen Geld und musst dir keine Sorgen mehr machen«, sagte Don Nino, derweil ich mich fragte, was ein Notar bloß so Großartiges anstellte, um so viel Kohle zu scheffeln.
    »Fleisch, mein Junge. Du musst Fleisch essen. Du bist zu dünn. Du musst jeden Tag Fleisch essen, immerhin hast du eine Familie, die sich das leisten kann. Als Cosimo in deinem Alter war, wog er schon siebzig Kilo«, sagte Donna Angelina.
    Dieses Argument war allerdings nicht sonderlich überzeugend. Cosimo war Zia Agneses jüngerer Bruder, damals kaum dreißig und bereits ein körperliches Wrack. Ein japsender Fettwanst, der Unmengen in sich hineinstopfen konnte, vor allem jede Art von fetttriefendem Grillfleisch. Ganz offensichtlich hatte seine Mutter ihn ähnlich gedrillt. Er aß, trank und rauchte mit selbstmörderischer Besessenheit. Natürlich bekam er mit vierzig einen Herzinfarkt. Er kam um ein Haar davon, schluckt heute massenhaft Pillen und ernährt sich von weißem Reis und gedämpftem Kabeljau. Donna Angelina lebt nicht mehr, sodass ihr der erschütternde Anblick ihres kleinen Cosimo, der nun ohne seine fünf Wochenrationen Bratwurst vor sich hin vegetiert, erspart bleibt.
    Zio Mauro war Allgemeinarzt in Altamura und ein Mensch mit eingefleischten Prinzipien. Zu allem und jedem hatte er eine Meinung: Ob Politik oder Recht, Literatur oder Malerei. Und vor allem war er davon überzeugt, dass seine Medizinerkollegen allesamt unfähig waren. Ich war zwar noch ein Junge, doch schon damals war mir diese maßlose Selbstsicherheit verdächtig.
    Zia Agnese war eine Frohnatur mit starkem Übergewicht – bei den Ernährungsmaximen, mit denen sie groß geworden war, unvermeidlich – und roch immer gut nach Creme und Puder. Sie hatte ein wunderhübsches Gesicht und einen einschüchternd großen Busen, der mich, auch wenn ich es niemals eingestanden hätte, alles andere als kaltließ.
    Wenn sie mir zum Beispiel die Pasta auftat, versuchte ich immer ganz unmerklich und wie zufällig mit diesen überwältigenden Weichheiten in Berührung zu kommen. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie durchschaute meine Manöver und begünstigte sie sogar. Für ein paar ewig lange Sekunden spürte ich, wie ihr Busen mein Gesicht streifte oder gar daran ruhte. Und ich rückte mit meinem Stuhl so nah wie möglich an den Tisch, aus Angst, jemand könnte sehen, was diese Berührung bei mir auslöste.
    Meine Tante arbeitete nicht, sie war Hausfrau und selbst ernannte Tarot-Expertin. Und sie hielt sich, wenn auch mit Einschränkungen, für eine begnadete Köchin. In Wirklichkeit war ihre Küche mit das Miserabelste, was ich je erlebt habe, und meine kulinarischen Erinnerungen an jenen Sommer bestehen aus verkochter Pasta mit Auberginen und Fleisch alla Pizzaiola, zäh wie Schuhsohle und mit Oregano überhäuft.
    Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass meine Erinnerungen von der Tatsache überschattet sind, dass ich Auberginen hasse und Oregano nicht ausstehen kann.
    Trotz ihres zweifelhaften kulinarischen Könnens war mir Zia Agnese sympathisch.
    Sie hatte eine ganz eigene, leise und unergründliche Wahrhaftigkeit. Arglos und tiefgründig zugleich. Als hätte sie wie aus Versehen ein großes Geheimnis begriffen und wäre selbst darüber verblüfft.
    Vielleicht lässt

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