Illusion der Weisheit
Córdoba und ihrem Sohn. Nach Durchsicht der Akten muss gleichfalls gesagt werden, dass unter den gegebenen Umständen weitere Ermittlungen nicht realistisch erscheinen.
Die bedauerlicherweise wahrscheinlichste Vermutung ist, dass die beiden Frauen den paramilitärischen Einheiten zum Opfer gefallen sind, ihr versuchtes Aufbegehren blutig niedergeschlagen wurde und die Leichen der beiden (und vielleicht auch des Kindes) wie in zahlreichen vergleichbaren Fällen versteckt oder beseitigt wurden.
Doch eine andere Möglichkeit ist ebenfalls nicht auszuschließen. Dafür spräche der Umstand, dass der El Maton genannte Anführer der im Barrio Casaloma operierenden Milizen (der wahrscheinlich für die Übermittlung der Ächtungslisten verantwortlich ist) zeitgleich mit dem Verschwinden von Francesca und María Asunción einem nicht näher bezeichneten tödlichen Unfall zum Opfer fiel.
Bedenkt man, dass Francesca eine Schusswaffe besaß und (aufgrund ihrer militärischen Vergangenheit) über das technische Können und die nötige Entschlossenheit verfügte, davon Gebrauch zu machen, ist ein Szenario denkbar, in dem die beiden Frauen und der Junge nach einem Schusswechsel mit unerwartetem Ausgang fliehen konnten und in den endlosen Weiten Kolumbiens untergetaucht sind.
Dennoch konnte das Geheimnis, das den Fall von Anfang an umgab, durch die Ermittlungen nur ansatzweise gelüftet werden.
Daraus folgt unweigerlich die Archivierung des Falls, denn weder gibt es Beweise für den Tatbestand des Mordes, noch kennt man die eventuellen Täter.
Obgleich nicht regelkonform, sollen der vorliegenden Akte ganz spontan einige Worte aus einem Notizbuch angefügt werden, das bei einer Durchsuchung von Francescas Wohnräumen sichergestellt und – wie andere Unterlagen auch – hinsichtlich möglicher Indizien untersucht wurde.
Mein Kind, nimm deine Sachen,
denn heute Abend treffen wir uns
auf den finsteren Feldern.
Vielleicht ist das unsere Schicksalsstunde,
vielleicht auch nicht.
Doch gewiss werden wir,
wiewohl einzig in jenem Moment,
sagen können, was es wirklich bedeutet
zu leben und zu sterben.
Ob es sich hierbei um Francescas eigene Worte handelt oder nicht, konnte nicht geklärt werden. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass diese kurzen, verstörend prophetischen Verse wohl den Grund für eine Entscheidung und ein Schicksal erahnen lassen.
Der Meister
des Stocks
Es war das Jahr, in dem meine Eltern beschlossen, sich zu trennen.
Eine Spitzenidee, denke ich heute angesichts der Ereignisse und Streitereien, die zu dieser Entscheidung führten. Damals war ich weniger geneigt, die Sache objektiv zu betrachten – als ich erfuhr, dass unsere Familie drauf und dran war auseinanderzubrechen, war mir, als müsste ich sterben.
Mein Bruder ist vier Jahre älter als ich. Im Januar jenes Jahres war er achtzehn geworden, und wenn die Trennungsnachricht ihn erschütterte, so ließ er es sich nicht anmerken.
Aber womöglich ließ ich mir auch nichts anmerken. Stumm standen wir beide da, während Mama und Papa uns darüber in Kenntnis setzten, dass sie sich trennen würden. Sie hatten uns ins Esszimmer gerufen und versuchten, die Sache ganz selbstverständlich klingen zu lassen, als gehörte sie im Familienleben zur Routine.
Wie aus dem Lehrbuch redeten sie davon, dass sich die Dinge ändern würden, dass ihre Wege sich trennten, dass das alles im Grunde ganz normal sei, die Zuneigung die gleiche bliebe, wenn auch in veränderter Form, und der gegenseitige Respekt gewahrt werden müsse. Mein Vater sprach von Zuneigung und Respekt, und ich meinte, bei diesen Worten ein leises, zorniges Zucken in der Miene meiner Mutter zu gewahren. Nicht mehr als ein winziges Stirnrunzeln. Gleich darauf hatte sie wieder das Seelsorgergesicht aufgesetzt, mit dem die beiden uns die Neuigkeit überbrachten.
Es war ziemlich schnell vorüber. Ich kann mich noch an die Frage meines Bruders erinnern. Er war schon immer der pragmatische Typ gewesen, der nicht viel für Gefühligkeiten übrighat.
»Wer zieht denn aus? Und was wird mit uns beiden?«
Sie meinten, noch sei nichts entschieden und über diese Details würden sie in den kommenden Wochen sprechen. Dann wurde die Versammlung aufgelöst.
Details? Wo es mich hinverschlagen würde, war ein Detail? Ich weiß noch, dass ich wortwörtlich so dachte, während ich mit der Verzweiflung und den Tränen rang, um weder das eine noch das andere hervorbrechen zu lassen. Mama, die durch den semiautistischen Dunst
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