Illusion der Weisheit
Fußballspielen auf der Allee vergingen die Tage plötzlich sehr viel schneller.
Cristina tat alles, was wir Jungs taten, Fußball spielen eingeschlossen. Als Mädchen und Kleinste der Gruppe blieb ihr nicht viel Verhandlungsspielraum.
Und dann redeten wir. Das gefiel mir vielleicht am besten, denn die Sache gestaltete sich fast immer so, dass ich redete oder besser erzählte, und sie zuhörten.
Vortragsort war unser Lager. Wir hatten uns eine Lichtung ausgesucht, die unweit der Häuser und der Straße, aber mitten im Unterholz im Verborgenen lag. Sie war also zugleich sehr nah und sehr weit weg. Geheim – so glaubten wir –, aber sicher, ohne die unterschwellige Furcht, die einen weitab im Wald beschleicht.
Wenn wir an stillen, brütend heißen Nachmittagen auf dieser Lichtung saßen, hatten wir das Gefühl, an einem geschützten, unerreichbaren Ort zu sein. Wir hatten eine kleine Trockenmauer als Schutzwall errichtet, aus Ästen und alten Decken ein Zelt gebaut, und wir hatten Hunderte von Pinienzapfen gesammelt und zu ordentlichen, symmetrischen Haufen gestapelt – unsere Munition , um uns gegen nicht näher definierte Feinde zu verteidigen.
Ich gab meine erdachten Erfahrungen und Abenteuer aus jedwedem Lebensbereich zum Besten und teilte sogar väterlich wohlmeinende Ratschläge aus. Für meine Ferienfreunde bestand mein städtisches Leben aus sportlichen Herausforderungen, halsbrecherischen Wagnissen und schreiend komischen Telefonscherzen. Und natürlich Mädchen.
In meiner imaginären Biografie gab es eine feste Beziehung zu einer schönen, gleichaltrigen Blondine, einer heißbegehrten klassischen Ballerina, um die mich sämtliche Schulkameraden beneideten. Ich hatte mich an einer Figur aus dem wahren Leben inspiriert. Barbara hieß sie. Sie war tatsächlich überirdisch schön, aber mit einem zwanzigjährigen Tenniscrack liiert, nicht mit einem unfähigen, Schwachsinn verzapfenden Vierzehnjährigen.
Vor allem Maurizio war an meiner Beziehung zu Barbara interessiert. Trotz seiner dreizehn Jahre war er regelrecht sexbesessen. Er trug eine dicke Weitsichtigenbrille, hinter deren Gläsern seine Augen manchmal erschreckend groß wurden wie bei gewissen Zeichentrickfiguren, und das besonders, wenn man auf Sex zu sprechen kam.
Nach jenem Sommer habe ich nie wieder etwas von ihm gehört, doch manchmal habe ich mich gefragt, ob seine Obsession, die schon damals nicht zu übersehen war, ihn späterhin in – womöglich gar strafrechtliche – Schwierigkeiten gebracht hat.
Maurizio wollte, dass ich ihm alles erzählte, was ich mit Barbara anstellte, möglichst einschließlich der technischen Details. Mit diesen Themen tat ich mich besonders schwer, basierte doch meine sexuelle Beschlagenheit lediglich auf verstohlenen Blicken in ein paar Pornoheftchen, die ich zudem ziemlich abstoßend gefunden hatte.
»Aber wenn ihr allein seid, du und Barbara, was macht ihr dann genau ?«
»Na ja, wir küssen uns natürlich.«
»Und dann?«
»Und dann, und dann. Was für ’ne Frage. Und dann machen wir alles andere, ist doch klar, oder?«
» Alles andere?«
»So ziemlich …«
»Aber geht ihr ins Bett?«
»Na klar gehen wir ins Bett.«
»Aber hast du sie mal da angefasst?«
»Wo?«
»An der Möse , Mann!«
»Na ja … Ja, ein bisschen.«
»Und fickt ihr?«
Na bitte. Dass wir fickten, wollte mir nicht über die Lippen. Ich fürchtete, bei so einer kapitalen Lüge käme Maurizio mir auf die Schliche. Dank seiner besessenen Lektüre von Pornocomics hätte er mir technische Fragen stellen können, auf die ich niemals eine Antwort gewusst hätte. Also sagte ich ihm, mit vollständigem Verkehr wollten wir noch warten, bis wir uns beide bereit dazu fühlten. Denn schließlich, fügte ich in erwachsenem und ein wenig gravitätischem Ton hinzu, wären wir noch nicht einmal fünfzehn.
*
Als wir eines Morgens mit Brötchen und Getränken bepackt zu unserem Lager kamen, um ein Picknick zu machen, fanden wir ein Schlachtfeld vor. Das Zelt war zerstört, die Decken geklaut, die Pinienzapfenhaufen zerstreut und die kleine Mauer fast vollkommen niedergerissen.
Es war schlimm, diese Verwüstung zu sehen: Es gab mir das ohnmächtige Gefühl von Schändung und Unrecht.
»Welche Mistkerle können das gewesen sein?«, sagte ich und versuchte vor allem beim Wort Mistkerle möglichst grimmig zu klingen. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass ich es diesen Mistkerlen zeigen würde, wenn ich sie erwischte.
»Das waren
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