Illusion der Weisheit
gelacht, ihn abermals beleidigt und versucht ihm die Waffe zu entreißen. Während der Rangelei kam es dann zu dem Messerstich. Ein einziger, was gegen einen vorsätzlichen Mord sprach. Im Laufe der Ermittlungen fand sich auch ein Zeuge, der diese Version des Tatherganges bestätigte.
JUNGER MANN : Wie ist die Sache ausgegangen?
ALTER MANN : Er wurde im abgekürzten Verfahren verurteilt. Zu vierzehn Jahren, wenn ich mich recht erinnere.
JUNGER MANN : Hätten Sie ihn nicht zu einem Geständnis bewegt, wäre der Fall nie aufgeklärt worden.
ALTER MANN : Schwer zu sagen. Vielleicht hätten wir den Zeugen dennoch gefunden, vielleicht auch noch weitere. Oder ja, vielleicht wäre der Fall nie gelöst worden. Allgemeingültige Aussagen lassen sich auf diesem Gebiet kaum treffen: Es gibt keinen Ermittlungsalgorithmus.
JUNGER MANN : Auch wenn das, was Sie bislang geschildert haben, durchaus auf etwas Derartiges schließen lässt.
ALTER MANN : Die Ermittlungsarbeit hat etwas grundlegend Paradoxes an sich. Man muss die Technik beherrschen und sich zugleich darüber im Klaren sein, dass Fälle häufig auch ohne diese Technik gelöst werden. Man muss sich an die ethischen und gesetzlichen Regeln halten und sich zugleich jeden moralischen Urteils enthalten.
JUNGER MANN : Enthaltung des Urteils. Klingt seltsam, wenn es darum geht, Verbrecher zu schnappen.
ALTER MANN : Die Arbeit des Ermittlers, ob er nun Polizist ist oder Staatsanwalt, ist eine Gratwanderung. Auf der einen Seite stehen die gesetzlichen und sonstigen Regeln, die häufig bewusst oder unbewusst gebrochen werden. Doch ohne Regeln gibt es keinen Unterschied zwischen Räuber und Gendarm, alles reduziert sich darauf, wer der Stärkere ist. Auf der anderen Seite steht die uns allen eigene Neigung, moralische Urteile über das Verhalten anderer zu fällen. Und diese Neigung ist noch gefährlicher als die, die Regeln zu verletzen. Die schlimmsten Ermittler, welche die gravierendsten und folgenschwersten Fehler machen, sind die Moralisten.
JUNGER MANN : Wieso?
ALTER MANN : Weil moralische Urteile das ermittlerische Gespür und den Blick für das Vergehen trüben. Und manchmal verschleiern sie die abgründigen Eigenarten desjenigen, der sie fällt.
JUNGER MANN : Zum Beispiel?
ALTER MANN : Zum Beispiel den abartigen und unkontrollierbaren Hang zu den Entsetzlichkeiten, mit denen wir uns befassen müssen.
JUNGER MANN : Soll das heißen, es gibt Polizisten mit den gleichen kriminellen Trieben wie die, hinter denen sie her sind?
ALTER MANN : Das Problem ist nicht, ob man sie hat oder nicht. Wir alle haben kriminelle Triebe. Am gefährlichsten sind die Menschen, die von ihnen nichts wissen oder wissen wollen, denn sie können sie in ihrer Ignoranz nicht beherrschen.
JUNGER MANN : (nach einer langen Pause) Die Arbeit eines Ermittlers hat etwas Paradoxes an sich. Haben Sie sich so ausgedrückt?
ALTER MANN : So habe ich mich ausgedrückt.
JUNGER MANN : Das Paradoxon des Polizisten. Vielleicht habe ich schon einen Titel.
ALTER MANN : Das Paradoxon des Polizisten. Wieso nicht?
Das doppelte Leben
der Natalia Blum
Alles begann in einer Buchhandlung, und irgendwie wirkte das ganz natürlich, wie eine gelungene Metapher.
Ich arbeite im Lektorat eines großen Verlages. Genauer gesagt, ich bin Lektor. Ein recht schwammiger Begriff, wenn man nicht vom Fach ist. Nun ja, vielleicht auch, wenn man vom Fach ist.
Jedenfalls besteht die Arbeit eines Lektors darin, Bücher vor ihrem Erscheinen zu lesen, ihre Schwachstellen zu erkennen, mit den Autoren darüber zu sprechen und Änderungsvorschläge zu machen.
Man muss mit vielversprechenden Autoren kleiner Verlagshäuser Kontakt aufnehmen, sie mit Geld und der Aussicht auf Ruhm locken und abwerben. Deshalb sind die kleinen Verlage auch nicht besonders gut auf uns zu sprechen.
Und man muss neue Autoren ausfindig machen, die es wert sind, verlegt zu werden. Das ist der Traum eines jeden Lektors, selbst wenn er bereits einigermaßen desillusioniert ist, so wie ich: Wenigstens einmal im Leben einen echten Schriftsteller entdecken. Einen, der wirklich etwas Neues zu erzählen hat und dafür die richtigen Worte findet.
Zwischendurch habe auch ich ein Buch geschrieben, es heißt Wie man einen Roman schreibt und ihn veröffentlicht bekommt. Das Interessante daran ist, dass ich nie einen Roman geschrieben habe, doch das scheint niemanden zu stören, und so werde ich, seit ich diese Art Handbuch herausgebracht habe, hin und wieder
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