Im Angesicht der Schuld
«
» Hast du schon einmal etwas von Wahrnehmungsstörungen gehört? «
» Hat hier jemand Wahrnehmungsstörungen? « , fragte Patrick, der sich mit einem Glas in der einen und einem reichlich beladenen Teller in der anderen Hand wieder zu uns gesellte.
Gregor und ich antworteten gleichzeitig: ich mit einem Nein, er mit einem Ja.
Patrick sah amüsiert zwischen uns hin und her, bis sein Blick bei mir hängen blieb. » Ich hoffe, dass du mir gegenüber mehr Einvernehmen dokumentierst, sonst könnte es vor dem Traualtar peinlich werden. Ach, Gregor, habe ich dir übrigens schon gesagt, dass ich Helen in acht Wochen heiraten werde? Du bist natürlich herzlich eingeladen. Dann kannst du dir mal anscha u en, wie man so eine Sache durchzieht. « Offensichtlich hatte Patrick von Gregors geplatzter Hochzeit gehört. Wieder zu mir gewandt sagte er: » Seit Gregors Rückzieher liegen ihm die Frauen zu Füßen. «
» Heißt es nicht, er sei vergeben? « , fragte ich mit Unschuld s miene.
» So heißt es ganz richtig « , sagte Gregor überaus gelassen.
» Aber die Frau meiner Träume « , dabei betonte er jede Silbe, » braucht noch Zeit. «
» Für ihre Entscheidung? « , triezte ich ihn.
» Um zu reifen « , gab er mir zur Antwort.
I n dieser Nacht hatte ich immerhin fünf Stunden am Stück geschlafen. Ich war weit davon entfernt, erholt zu sein, aber ich schöpfte einen Funken Hoffnung, dass ich mein Schlafproblem mit etwas Geduld vielleicht ohne Medikamente in den Griff bekommen würde.
Kurz nach acht – Jana und ich hatten gerade erst gefrühstückt –rief bereits Felicitas Kluge an.
» Es geht um den vorletzten Freitag, genauer gesagt um den Nachmittag. Können Sie sich noch erinnern, wo Ihr Mann zwischen sechzehn und achtzehn Uhr war? «, fragte sie.
Ich ließ den bewussten Tag vor meinem inneren Auge Revue passieren. » Ich weiß nicht, wo er zu dieser Zei t w ar, ich nehme aber an, dass er einen Mandantentermin hatte. «
» Laut seinem Kalender hatte er keinen Termin am Nachmi t tag. «
» Und was sagen seine Mitarbeiterinnen? «
» Den beiden ist auch nichts von einem Termin bekannt, und im Kalender Ihres Mannes ist nichts eingetragen. Frau Grooth-Schulte und Frau Lorberg sind beide um sechzehn Uhr gega n gen. Als sie sich von Ihrem Mann verabschiedeten, meinte er, er werde jetzt auch gleich Schluss machen. Sind Sie ganz sicher, Frau Gaspary, dass Ihr Mann in der besagten Zeit nicht zu Hause war? «
» Ganz sicher. Ich habe versucht, ihn anzurufen, um ihn zu fragen, ob er abends noch etwas essen wollte, habe ihn aber nicht erreicht. Im Büro war er nicht, und sein Handy war abgeschaltet. «
» Um welche Uhrzeit haben Sie ihn angerufen? «
» Das weiß ich nicht mehr genau … vielleicht so gegen fünf. Warum ist das plötzlich wichtig? «
Für Sekunden war es still in der Leitung.
» Frau Kluge …? «
» Es geht nur darum, bestimmte Angaben zu verifizieren. Im Zuge einer Befragung wurde uns ein Alibi genannt, das sich zwischenzeitlich als falsch erwiesen hat. «
» Wieso geht es um ein Alibi für den Freitagnachmittag? Mein Mann ist erst am darauf folgenden Montag umgekommen. «
» Es geht um den Montag. Und das Alibi wurde angeblich wegen eines etwas missglückten Treffens mit Ihrem Mann am Freitag konstruiert. «
» Missglückt in welchem Sinne? «, fragte ich alarmiert.
» In dem Sinne, dass sich mit sehr viel Fantasie möglicher we i se ein Mordmotiv daraus stricken ließe. Weder mein Kollege noch ich halten das für wahrscheinlich, aber wir müssen der Sache nachgehen. «
» Mit wem hat mein Mann sich am Freitagnachmittag getro f fen? «
Wieder dieses Zögern. » Mit der Mutter von Till, dem veru n glückten Baby. «
I ch ließ Jana bei Nelli und fuhr zu Claudias Agentur. Vor einem halben Jahr hatte sie mit ihren Mitarbeitern zwei Etagen eines Hochhauses in der Innenstadt bezogen. Gregor und ich waren zur Einweihung der neuen Räume dort gewesen. Gregor, der nie gerne in Aufzügen gefahren war, war in den achten Stock gelaufen, ich hatte mich der Technik anvertraut. Das tat ich auch jetzt.
Claudia kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen und drückte mich fest an sich. Kaum hatte sie mich losgelassen, forschte sie in meinem Gesicht. » Ich bin froh, dass du weinen kannst «, sagte sie schließlich. » Das ist tausendmal besser, als innerlich zu erstarren. «
» In manchen Stunden wünschte ich mir, erstarrt zu sein, um diesen Schmerz wenigstens für kurze Zeit
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