Im Antlitz des Herrn
Lucca vorstellen. Er stammt aus Amerika, arbeitet aber jetzt als Leiter einer Abteilung der Glaubenskongregation in Rom. John, das ist Thomas Engel, einer meiner Lieblingsschüler.»
Thomas reichte di Lucca die Hand.
«Welcome, Mr. di Lucca.»
John erwiderte seinen Händedruck fest und selbstsicher.
«Wir können deutsch miteinander sprechen, Herr Engel. Ich habe ein paar Semester in München studiert.»
Nach dieser kurzen Begrüßung betraten die drei Männer das Haus. Thomas sah aus dem Augenwinkel, dass die Gardine in einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses zurückschwang. Der Dorffunk würde binnen der nächsten Stunde überall verbreiten, welch wichtigen Besuch der Herr Pfarrer heute hatte. Schaden kann es nicht, dachte Thomas, als er die Tür schloss.
Gott sei Dank hatte er zuvor Kaffee und Tee gekocht und in Thermoskannen gefüllt. Außerdem standen eine Flasche preiswerter, aber trinkbarer Rotwein sowie belegte Käsebrote bereit. Das war zwar nicht stilvoll, doch wenn er den Bischof verstanden hatte, ging es um einen Arbeitsbesuch. Kornmann kam sofort zur Sache, nachdem er sich auf Engels Biedermeiersofa niedergelassen hatte.
«John hat mich gebeten, dieses Treffen zu arrangieren. Er möchte Sie um einige Informationen bitten.»
Engel wandte sich dem Amerikaner zu. Auch er trug einen schwarzen Anzug, hatte allerdings auf das Beffchen zugunsten eines schlichten weißen Hemdes mit Button-down-Kragen verzichtet. Er saß mit übergeschlagenen Beinen entspannt im Ohrensessel, den Thomas von seinem Vater geerbt hatte. Vorsichtig stellte er seine Kaffeetasse auf den Tisch.
«Herr Engel, wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?»
Thomas musste nicht lange überlegen. Wie es Tradition war, traf sich die Familie am zweiten Weihnachtstag bei der Mutter.
«Seitdem haben Sie nicht mehr mit ihm gesprochen?»
Di Lucca schien enttäuscht.
«Wir haben einige Male telefoniert. Erst gestern wollte ich ihn anrufen, um zu fragen, wohin wir unseren jährlichen Familienausflug machen sollen. Wolframs Frau erzählte mir, er sei in Israel.»
«Wissen Sie, woran Ihr Bruder derzeit arbeitet?»
«Nein, nicht direkt. Natürlich haben wir uns Weihnachten über das eine oder andere unterhalten, obwohl unsere Mutter es nicht mag, wenn wir debattieren. Meistens sind wir nämlich ganz und gar nicht einer Meinung.»
Thomas lachte.
Während der Bischof Thomas’ Erzählung mit einem Lächeln quittierte, schien di Lucca genervt von den Engelschen Familienverhältnissen.
«Nun, Herr Engel, es wäre für die Kirche von größter Wichtigkeit, zu wissen, woran Ihr Bruder im Augenblick arbeitet. Hat er den Namen Henderson in letzter Zeit erwähnt?»
«Ein Engländer?»
Di Lucca nickte.
Thomas Engel überlegte einen Moment, eher er antwortete:
«Ich glaube, er sprach von einem Engländer, für dessen Stiftung er gelegentlich neben seiner Institutstätigkeit arbeitet.»
Der Amerikaner aus Rom griff zur Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Dabei richtete er seinen Blick über den Tassenrand auf Thomas, der das Gefühl hatte, eingehend gemustert zu werden. Es erweckte den Eindruck, di Lucca überlege, ob er ihm trauen könne. Nach einigen Sekunden des Schweigens schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein.
«Thomas, ich darf doch Thomas sagen?»
Der Pfarrer nickte.
«Thomas, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ihr Bruder ist in eine gefährliche Sache verwickelt, die ihm als Wissenschaftler das Genick brechen könnte. Henderson ist ein Scharlatan, der nur ein Ziel kennt: der Kirche zu schaden, mehr noch, sie zu zerstören.»
Di Lucca beugte sich nach vorne und stützte seine Arme auf die Knie. So brachte er sein Gesicht nahe an das von Thomas heran.
«Damit sein Plan aufgeht, braucht er die Hilfe angesehener Forscher, um seine verqueren Ansichten zu bestätigen. Wir fürchten, dass er versucht, Ihren Bruder auf seine Seite zu ziehen und für seine Ziele zu missbrauchen.»
Thomas erschien diese Behauptung abwegig. Wolfram war der seriöseste Wissenschaftler, den er kannte. Er war oft nicht einer Meinung mit ihm, aber niemals hatte er erlebt, dass er eine noch nicht bewiesene These als Tatsache darstellte. Im Gegenteil, er hatte ihm einmal anvertraut, dass sein Dekan ihn aufgefordert hatte, mehr zu riskieren. Manchmal müsse man eine tragfähige Hypothese als gesicherte Erkenntnis verkaufen, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden – allenfalls mit dem Zusatz «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit».
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